Die beiden neun Meter hohen Maßwerkfenster der Sakramentskapelle im Mainzer Dom sind eine Einladung zu Gebet und Meditation. Auf ihnen dominiert das Blau des Himmels. Das weiße, ewige Licht erreicht die Menschen nur durch das Leben und Sterben Christi - angedeutet mit einem Rubinrot, einer querliegenden Linie und einem Gewebefragment, das etwa an den zerrissenen Vorhang im Jerusalemer Tempel denken lässt. Die Fenster stammen von Johannes Schreiter, dem neben Georg Meistermann (1911-1990) wohl bedeutendsten zeitgenössischen Glasbildner. Am 8. März vollendet er im südhessischen Langen sein 90. Lebensjahr.
Johannes Schreiter wird 1930 in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge geboren. Seine Liebe zum Malen entdeckt der Sohn eines Kaufmanns bereits als kleines Kind. Aber auch das Violinespielen und das Komponieren bereiten ihm Freude. Er ist ein großer Bachverehrer. "Ich wusste bis zum Abitur nicht, was das Richtige für mich war - die Malerei oder die Musik", sagte der Grandseigneur der Glasbildnerei dem Evangelischen Pressedienst. Die Entscheidung wird ihm abgenommen: 1949, während seiner Flucht aus der DDR nach Greven im Münsterland, überfordert er den linken Arm so stark, dass an eine berufliche Zukunft als Geiger nicht mehr zu denken ist.
Im selben Jahr nimmt Schreiter in Münster bei Vincenz Pieper (1903-1983) ein Kunststudium auf, das er in West-Berlin und Mainz fortsetzt. 1959 entwickelt er die Technik des Gestaltens mittels einer brennenden Kerzenflamme, die sogenannte Brandcollage, und schreibt damit Kunstgeschichte. Etwa zur gleichen Zeit entstehen seine vielbeachteten Kirchenfenster in Bürgstadt am Main und in Kitzingen, die keine Bilderpredigten, sondern frei gestaltete, moderne Kunstwerke sind. "Das war die Initialzündung für meine Karriere als Glasmaler", erinnert er sich.
1960 wird Schreiter Leiter der Abteilung Fläche an der Staatlichen Kunsthochschule Bremen. Anschließend wirkt er bis 1987 als Professor für Malerei und Grafik der Frankfurter Städelschule. Mitte der 1960er Jahre verwirklicht er im Exerzitienhaus des Johannesbunds in Leutesdorf am Rhein eine weitere revolutionäre Idee: Er befreit die Bleiruten in den Fenstern von ihrer rein technischen Funktion als Glashalter und setzt sie, wie in fast allen Arbeiten danach, als autonomes künstlerisches Gestaltungsmittel ein.
1983 kehrt er von einem Lehrauftrag in Neuseeland schwer erkrankt nach Deutschland zurück. Er verliert seine Stimme und muss seine Professur an den Nagel hängen. Für ihn sei damals klar gewesen, dass Hilfe nur aus einer "anderen Dimension" kommen konnte, sagte er 2015 dem epd. Das Ergebnis sei ein "Paradigmenwechsel hin zu Christus" gewesen und 1988 die Heilung seiner angeblich unheilbaren Krankheit.
Das von Schreiter als "Heilungswunder" beschriebene Ereignis verändert nicht nur sein Leben radikal, sondern auch seine Kunst. Das Erdfarbene und Düstere verliert an Gewicht und helle, strahlende Farben gewinnen die Oberhand. Der Meister, der gerne im hellen Rollkragenpullover in seinem Atelier arbeitet, beginnt sich fortan "auf die Tatsächlichkeit des Heiligen zu konzentrieren", wie es der Hallenser Kunsthistoriker Holger Brülls formuliert. Es folgt ein jahrzehntelanger Schaffensrausch.
In seinen Glasbildern dominieren die Farbe Blau, die von jeher mit Transzendenz und Himmel assoziiert wird, das österliche Goldgelb, das Rot der Liebe und des Blutes sowie das Weiß, das "Licht der Welt" (Johannes 8,12), das für Reinheit und Unschuld steht. Ebenso unverwechselbar ist Schreiters Zeichensprache. Zentral ist die U- oder Klammerform, die eine geöffnete Hand assoziiert, die sich füllen lässt oder sich ausstreckt. Schließlich benutzt er Linien, Gitter und Bänder, um das Zerrissene und Gefährdete der menschlichen Existenz darzustellen, und verwendet Schriftzeichen. Das Kreuz findet sich nur angedeutet in wenigen seiner Werke.
Grafik als Grundlage
"Bei aller Begeisterung für das Medium Glas bleiben die Zeichnungen für Schreiter grundlegend", betont der Langener Maler und Kunsthistoriker Gunther Sehring. Sie machten nicht nur mehr als die Hälfte seines Werks aus, sie seien auch in Grafik, Collage und Glasmalerei das dominierende Mittel. "Ruhige, blockhafte Farbfelder und Farbbahnen, die untereinander in direkter räumlicher Spannung stehen" bildeten gewissermaßen den Grund, auf dem sich die zeichnerische Aktion entfalten könne. Auch die Architektur spiegele sich in den Arbeiten wider.
Mehr als 80 Prozent seiner Entwürfe lässt Schreiter von den Derix-Glasstudios in Taunusstein bei Wiesbaden umsetzen. "Sie verwenden dazu ausschließlich in der Masse gefärbtes, mundgeblasenes Antikglas aus der Glashütte Lamberts in Waldsassen/Oberpfalz", erläutert Sehring.
Die Fenster des Langener Meisters zieren sakrale und öffentliche Gebäude in aller Welt - darunter das Royal London Hospital, das College of Art in Swansea/Wales, das Auswärtige Amt in Bonn, das Ulmer Münster sowie die Dome von Augsburg, Mainz und Frankfurt am Main. Sein Opus Magnum, ein Zyklus von Glasbildern für die Heiliggeistkirche in Heidelberg, der die Beziehung der modernen Welt und der Wissenschaften zum Glauben reflektieren sollte, wird jedoch wegen seiner angeblichen Progressivität nicht ausgeführt. Dem Ruf des Künstlers schadet dies nicht - im Gegenteil, seine Bekanntheit wächst.
In den vergangenen 25 Jahren hat Schreiter seine Entwürfe mit S.D.G. - Soli Deo Gloria, Gott allein zur Ehre - signiert. Seinen letzten Entwurf widmet er 2019 Rainer Schmitt, dem Geschäftsführer der Derix-Glasstudios. Seit Herbst hat der Künstler kaum noch den Zeichenstift angerührt. "Johannes geht es nicht gut, seine Kräfte lassen nach", sagt seine Ehefrau, die Autorin Barbara Schreiter. Selbst den Geburtstagsempfang der Stadt Langen habe er abgesagt.