Helga Trölenberg wollte nach ihrem Umzug ins westfälische Minden neue Leute kennenlernen. Die Einladung in die Kantorei der evangelischen St.-Martini-Gemeinde nahm sie deshalb gern an. Beim Chorsingen allein blieb es nicht. Vor vier Jahren wurde die Unternehmensberaterin ins Presbyterium gewählt, das Leitungsgremium ihrer Kirchengemeinde. "Ich trage gerne Verantwortung und finde es spannend, Gemeinde zu gestalten", sagt die 58-Jährige, die bei der Kirchenwahl am Sonntag erneut antritt.
Alle vier Jahre stehen in den evangelischen Landeskirchen Rheinland, Westfalen und Lippe mit ihren zusammen 4,75 Millionen Mitgliedern die Wahlen zu den Presbyterien und Kirchenvorständen an. Sie sind besetzt mit Ehrenamtlichen, die gleichberechtigt mit den Pfarrern Verantwortung für das Gemeindeleben vor Ort tragen. In den Gremien befassen sie sich etwa mit Fragen zum Gottesdienst und Jugendarbeit oder stellen Personal ein. Das griechische Wort Presbyter heißt übersetzt "Ältester".
Rasch habe sie gemerkt, dass ihr Blick aus der Wirtschaft hilfreich für die Gemeinde ist, erzählt Trölenberg. Als Kirchmeisterin ist sie auch für Bau- und Finanzfragen zuständig. Über das Alltagsgeschäft der Gemeindeleitung hinaus befasst sich die Beraterin auch mit konzeptionellen und strategischen Fragen: "Kirche muss sich als Organisation in ihrem Selbstverständnis verändern, um zu bestehen."
Die Mindener Presbyterin darf sich bereits als gewählt betrachten: Genau zehn Gemeindeglieder kandidieren am Sonntag in St. Martini für ebenso viele Sitze im Presbyterium. Da es nicht mehr Wahlvorschläge gibt, entfällt die Abstimmung an der Urne. Die Mindener Gemeinde ist damit kein Einzelfall. Nach Angaben der drei Landeskirchen wird am Sonntag in der großen Mehrheit der insgesamt rund 1.200 Kirchengemeinden so verfahren. Mit den Slogans "Gemeinde mit dir" und "Gemeinde bewegen" warben sie im Vorfeld für die Kirchenwahl 2020.
Nur in wenigen Gemeinden eine "echte Wahl"
Die Evangelische Kirche von Westfalen habe bei ihrer Kampagne die Kandidatensuche in den Vordergrund gerückt, sagt der Herforder Superintendent Michael Krause. Denn das Finden interessierter und geeigneter Menschen, die sich eine Mitarbeit im Leitungsgremium einer Gemeinde vorstellen können, werde schwieriger: "Gerade Menschen in den mittleren Lebensjahren sehen sich immer stärkerer beruflicher Belastung ausgesetzt, etliche müssen sich auch um ihre alten Eltern kümmern", berichtet er.
Hinzu kämen wachsende Anforderungen an Fachwissen für Presbyter, zum Beispiel durch das Neue Kirchliche Finanzsystem, dem sich nicht jeder gewachsen fühle, erläutert der Theologe, der mit einer Arbeitsgruppe der Landeskirche die Kirchenwahl begleitet. In Krauses Kirchenkreis haben die Kirchenmitglieder am Sonntag in vier von 25 Herforder Gemeinden eine "echte Wahl". Es gibt mehr Kandidaten als Ämter.
Lust an Leitung haben
Auch die Kirchengemeinde Lechenich bei Köln, die zur Evangelischen Kirche im Rheinland gehört, kann einen "Überhang" an Kandidaten vorweisen: Elf Frauen und Männer bewerben sich um die zehn Plätze im Presbyterium. "Man kann natürlich fragen, ob sich der Aufwand lohnt, wenn dann nur eine Person herausfällt", sagt Mirco Sobetzko, der seit acht Jahren dem Leitungsgremium angehört. Aber dann wäre die Wahl zwei Mal hintereinander ausgefallen. "Bei dem Gedanken war uns auch nicht so recht wohl", erklärt der 34-Jährige.
Sobetzko selbst wuchs über sein Engagement für den Jugendtreff vor Ort in die Leitungsaufgabe hinein. Dafür trat er eigens von der katholischen zur evangelischen Kirche über. Der Industriekaufmann und Betriebswirt kümmert sich als Presbyter neben der Jugendarbeit um die kulturellen Veranstaltungen der Gemeinde und um die Öffentlichkeitsarbeit. Seit über zwei Jahren ist Sobetzko als Finanzkirchmeister für Haushaltspläne und Jahresabschlüsse verantwortlich. Als ideale Voraussetzung für das Presbyteramt sieht er "Lust an Leitung, auch an dem damit verbundenen Pro und Kontra".
Bei der vorherigen Kirchenwahl blieb die Beteiligung in den Gemeinden, wo 2016 tatsächlich abgestimmt wurde, eher mäßig: in der rheinischen Kirche gingen damals zehn Prozent der Gemeindemitglieder zur Wahl, in der westfälischen sechs und in der vergleichsweise kleinen lippischen Kirche immerhin 15 Prozent.
Um hier das Interesse anzukurbeln, setzen immer mehr Kirchengemeinden auf Briefwahlen. Die westfälische Kirchengemeinde Löhne-Ort bei Herford konnte so vor vier Jahren eine Rekord-Wahlbeteiligung von fast 30 Prozent erzielen, fünf Mal mehr als üblich. In diesem Jahr folgen laut Bielefelder Landeskirchenamt weitere westfälische Gemeinden dem Beispiel. Auch in über 60 Gemeinden im Rheinland gibt es eine "Allgemeine Briefwahl".