Tag für Tag saß der Mann stumm im Vorraum der Berliner Postfiliale und beobachtete das geschäftige Treiben an den Geldautomaten. Auf der Sitzfläche seines Rollators lag seine umgedrehte Mütze. Hin und wieder legte einer der Postkunden eine Münze hinein. Dann nickte der Mann und sagte ein leises "Danke".
Wenn die Nacht einbrach, streckte er sich auf einem der breiten Fensterbretter über den Heizkörpern aus. Es sei in Kroatien geboren und in den 1970er Jahren nach Deutschland gekommen, erzählte er einmal. Auf der Straße lebe er seit zehn Jahren.
Später wurden es dann immer mehr Menschen, mit denen er sich den Platz in dem beheizten Vorraum nachts teilen musste. Zuletzt lagen bis zu acht Menschen zwischen den Geldautomaten, es roch ungewaschen und nach Bier, aus einer kleinen Box plärrten polnische Schlager.
Nach Beschwerden geschlossen
Die Postfiliale reagierte und sperrte den Vorraum nachts ab. Die nächtlichen Gäste verschwanden und mit ihnen auch der Mann mit dem Rollator. Viele Kunden hätten sich beschwert, sagte eine Postangestellte: "Bei einem konnten wir hinwegsehen, aber zuletzt wurden es gefühlt immer mehr."
Die Zahl der Obdachlosen in Berlin hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen, soviel ist sicher. Menschen, die unter Brücken, in Parks und vor Hauseingängen schlafen, gehören längst zum Stadtbild. Nicht sicher ist bislang, wie viele es sind. Schätzungen gehen von 6.000 bis 10.000 Obdachlosen aus, die auf den Berliner Straßen leben.
Paris und New York als Vorbilder
Um Klarheit zu bekommen, hat Berlin nun die bundesweit erste Obdachlosenzählung durchgeführt. Vorbilder gibt es unter anderem in New York und Paris. Nach fünfmonatiger Vorbereitungszeit in der Senatssozialverwaltung zogen in der Nacht zu Donnerstag mehr als 3.700 freiwillige Helfer bekleidet in blauen Westen in mehr als 600 Teams zwischen 22 und ein Uhr durch die Stadt, um Obdachlose zu zählen und zu befragen. Die Fragebögen in acht Sprachen thematisierten zum Beispiel, wie lange die Menschen auf der Straße leben und aus welchen Ländern sie kommen. Die Beantwortung war freiwillig. Wer nicht antworten wollte, wurde nur gezählt.
"Mit dem Zählen wollen wir das angestrengte Wegschauen bei Obdachlosen durchbrechen, und wir verlassen den Raum der groben und weit auseinandergehenden Schätzungen", sagte die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) zum Auftakt am Mittwochabend. Von den konkreten Zahlen aus der "Nacht der Solidarität", so der Name der Aktion, erhoffen sich Sozialverwaltung und Sozialverbände, die Hilfsangebote für wohnungslose und auf der Straße lebende Menschen verbessern zu können.
Die Zählteams durchstreiften auf festgelegten Routen und Karrees die zwölf Berliner Bezirke. Jedes Team hatte einen eigens geschulten Leiter, der vorab Instruktionen gab, wie vorzugehen ist. "Begegnen sie bitte den Menschen mit Respekt", hieß es da. Auch ein auf der Straße lebender Mensch habe eine Recht auf Achtung seiner Privatsphäre. Bitte auch keinen körperlichen Kontakt, wenn das nicht gewünscht werde. "Und verzichten Sie auf individuelle Beratung der Menschen. In dieser Nacht geht es nur ums Zählen."
An den sogenannten Hotspots von Obdachlosen wie dem Bahnhof Zoo und Bahnhof Lichtenberg, der Rummelsburger Bucht oder dem Kottbuser Tor wurden die Zählteams durch Straßensozialarbeiter verstärkt. "Damit wollen wir möglichen Eskalationen vorbeugen", sagte Klaus-Peter Licht, Referent für Bürgerschaftliches Engagement in der Sozialverwaltung und Koordinator der "Nacht der Solidarität".
"Aus Daten müssen Taten werden"
Wissenschaftlich ausgewertet werden die Zahlen unter anderem an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin unter Leitung der Armutsforscherin Susanne Gerull. Valide Daten zur Wohnungslosigkeit fordern Wohlfahrtsverbände und Wissenschaft von der Politik schon seit Jahrzehnten. Deshalb dürfe die Zählung auch kein einmaliges Ereignis bleiben, sagte die Professorin für die Soziale Arbeit. Ihr schweben regelmäßige Zählungen im Winter und im Sommer vor. Zudem müssten bei weiteren Erhebungen auch diejenigen Menschen erfasst werden, die wohnungslos sind, aber nicht auf der Straße leben. "Aus Daten müssen dann Taten werden", sagte Gerull. Die Ergebnisse der ersten Zählung werden am 7. Februar bekanntgegeben.