Für dieses Wunder sorgt zwar ein Kommissar, aber ein Krimi im herkömmlichen Sinn ist der Film trotzdem nicht; tatsächlich erzählt Autor Nils-Morten Osburg ein doppeltes Drama. In beiden Geschichten – das Drehbuch basiert auf dem gleichnamigen Roman von Jan Costin Wagner – spielt Kommissar Fischer (Henry Hübchen) bloß eine Nebenrolle. Weil er aber gleichzeitig das verbindende Element zwischen den Ebenen verkörpert, wird er zum dritten Protagonisten. Außerdem ist er eine ähnlich tragische Figur wie die Akteure der beiden Erzählstränge. Zunächst erzählt Osburg die Geschichten jedoch derart parallel, dass es den Anschein hat, jemand habe sich einen Jux erlaubt und zwei völlig verschiedene Filme munter durcheinander montiert.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Handlung beginnt im Bett: Lars und Kirsten Eckert (Barnaby Metschurat, Victoria Mayer) sind ein offenbar glücklich verheiratetes Ehepaar. Draußen fällt der letzte Schnee des Winters. Lars muss los, um die gemeinsame Tochter vom Training abzuholen. Auf dem Heimweg kommt es zu jenem fatalen Moment. Ein kurzer Seitenblick, ein blendender Lichtschein, das Auto kommt von der Straße ab und überschlägt sich; Lars überlebt, das Mädchen nicht. Die Polizei wird keine Hinweise auf einen zweiten Wagen entdecken, weshalb Kirsten glaubt, ihr Mann habe sich das andere Auto bloß ausgedacht, um nicht Schuld sein zu müssen. Die Tragödie wäre bereits Filmstoff genug, aber nach zwölf Minuten brechen Osburg und Regisseur Lars-Gunnar Lotz diese Ebene abrupt ab und erzählen eine ganz andere Geschichte, die nicht in Hamburg beginnt, sondern in Frankfurt: Acht Wochen zuvor feiert eine Gruppe von Bankangestellten in einem Club den erfolgreichen Abschluss eines Deals. Teil der Gruppe und irgendwie dennoch Außenseiter ist Markus Sellin (Bjarne Mädel), der die Ausgelassenheit der anderen nicht teil. Seine Stimmung hellt sich auf, als er die Kunstgeschichtsstudentin Lisa (Mercedes Müller) kennenlernt. Bald darauf mietet Markus ihr eine Wohnung in Hamburg. Fortan führt er ein Doppelleben: Daheim geht die Ehe mit seiner offenbar kranken Frau (Christina Große) weiter den Bach runter, aber bei Lisa holt er sich die Energie, die er braucht, um im Beruf wieder an frühere erfolgreiche Tage anzuknüpfen; bis er eines Tages durch einen Anruf völlig aus der Bahn geworfen wird.
Fischer kommt ins Spiel, als der Film zurück in die Gegenwart springt, denn während sich der seit einem Jahr verwitwete Polizist noch voller Mitgefühl um die Eckerts kümmert, wird er zu einem Tatort gerufen: Auf einer Bank in einem Neubauviertel sitzt eine schöne junge Frau mit drei Einschusslöchern in ihrem Körper. Die Polizei hat zunächst keine Ahnung, wer sie ist, die Zuschauer dagegen schon: Für Lisa hat der Umzug nach Hamburg ein furchtbares Ende genommen. Natürlich ist klar, dass die beiden Handlungsstränge irgendwie miteinander zu tun haben müssen, was wiederum Fischer selbstverständlich nicht ahnen kann. Die Faszination der Geschichte resultiert daher nicht zuletzt aus der Frage, ob sich die Wege von Lars Eckert und Markus Sellin zu Beginn des Films tatsächlich gekreuzt haben; und wenn ja, warum. Dank der emotional komplexen Charakterstudien stehen jedoch die Schicksale der Betroffenen im Vordergrund: hier das Ehepaar, das den Verlust seines einzigen Kindes verkraften muss, dort der Banker, der auf einen Schlag alles verliert, als seine Liaison mit Lisa bekannt wird; außerdem gilt er als Mordverdächtiger.
Es ist aber nicht nur die Geschichte, die "Tage des letzten Schnees" zu einem großen Film macht. Osburg hat sich bislang vor allem als Autor zu diversen Reihen hervorgetan und dabei meist gute Drehbücher geliefert, etwa zu den "Island-Krimis" mit Franka Potente oder zur "Helen Dorn"-Folge "Bis zum Anschlag". Offenbar gilt er zudem als Adaptionsspezialist; gelungen waren neben "Ostfriesenblut" auch seine verschiedenen Drehbücher nach Romanen von Craig Russell ("Brandmal", "Carneval", "Todesengel"). Mit Lotz hat der Autor offenbar einen ebenbürtigen Partner gefunden. Der Regisseur hat drei fesselnde Folgen für die ZDF-Reihe "Stralsund" (2015/16) gedreht; seine bislang beste Arbeit war "In Flammen", ein "Polizeiruf" aus Rostock über die Suche nach dem Mörder einer rechtspopulistischen Spitzenkandidatin.
Filmisch reizvoll ist "Tage des letzten Schnees" nicht zuletzt wegen der kühlen, auf Farbtupfer verzichtenden spätwinterlichen Bildgestaltung (Jan Prahl), die dem Drama eine ganz spezielle Atmosphäre verleiht. Die Sorgfalt im Detail zeigt sich zudem am schönen Übergang in eine Rückblende, als Fischer, ohnehin eine melancholische Figur, nachdenklich in den nächtlichen Garten der Eckerts schaut. Weil die Kamera an seinem Rücken vorbeifährt, ist der Blick kurz verstellt. Als wieder freie Sicht herrscht, zeigen die Bilder ein fröhliches Gartenfest. Auch schauspielerisch ist der Film durchgehend überzeugend. Gerade die sprachlosen Trauermomente, wenn Lars und Kirsten Eckert nicht in der Lage sind, ans Telefon zu gehen, sind mit viel Feingefühl umgesetzt. Das gilt auch für die Szenen, die unter einem ganz anderen Vorzeichen stehen: Lisa schwärmt im Museum von einem Gemälde, aber Markus hat nur Augen für sie.