Um ein klares Wort ist Annette Kurschus nicht verlegen. Ob Migration, Rechtsextremismus oder Klimawandel: Immer wieder nimmt die 56-jährige Theologin Stellung zu Fragen des politischen und gesellschaftlichen Lebens und zählt inzwischen zu den wichtigsten Stimmen des deutschen Protestantismus. Als erste Frau wurde sie vor acht Jahren an die Spitze der Evangelischen Kirche von Westfalen gewählt. Am Mittwoch soll sie für eine zweite Amtszeit als westfälische Präses bestätigt werden.
Bei der Jahrestagung des ab Sonntag in Bielefeld tagenden westfälischen Kirchenparlaments, der Landessynode, ist Kurschus die einzige Kandidatin für das Spitzenamt der viertgrößten Landeskirche mit rund 2,2 Millionen Mitgliedern. Profilieren konnte sich die ehemalige Siegener Superintendentin seit 2015 auch als stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die reformierte Theologin ist zudem Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bibelgesellschaft.
Kurschus gilt als begnadete und charismatische Rednerin. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm adelte sie als Meisterin des Wortes in der Vermittlung biblischer Inhalte und ihrer Konsequenzen für das Leben: "Mit ihren brillanten Predigten und Andachten berührt sie immer wieder viele Menschen, mich eingeschlossen." Das zeigte sich etwa, als Kurschus 2015 im zentralen Trauergottesdienst für die Opfer des Germanwings-Absturzes eine vielbeachtete Predigt hielt. In ihrer Ansprache im Kölner Dom fasste sie das Entsetzen über das Unglück mit 150 Toten einfühlsam in Worte.
Feinfühlinge Sprache und klare Botschaften
Richtschnur ihrer Äußerungen ist stets die biblische Botschaft. Kurschus plädiert für eine "öffentliche Theologie", die mitten in der Welt von Gott redet. Der christliche Glaube könne "eine Art Grundnahrung und Grundvertrauen für das Funktionieren der Gesellschaft geben". Mit ihrer Redekunst stärke Kurschus die gesellschaftliche Relevanz des Christentums, lautete im Januar die Begründung für die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Münster an die Theologin. Sie kommuniziere geistliche Einsichten und Perspektiven in das politische und gesellschaftliche Leben.
In ihrer bisherigen Amtszeit habe Kurschus mit einer feinfühligen Sprache kontinuierlich biblische Bezüge zu aktuellen Fragen hergestellt, sagt auch Traugott Jähnichen, Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum. So wende sie sich entschieden gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus und setze sich beharrlich dafür ein, die Willkommenskultur weiter zu gestalten, Flüchtlinge aufzunehmen und in Härtefällen Kirchenasyl zu gewähren.
Beim Kirchentag im Juni in Dortmund trug Kurschus als leitende Theologin der gastgebenden Landeskirche die Entscheidung mit, keine AfD-Funktionäre auf Podien einzuladen. Sie geißelt Hassbotschaften und fordert "klare Kante" gegen fremdenfeindliche Positionen, plädiert aber zugleich für Gespräche mit AfD-Wählern - nicht alle seien "überzeugte Populisten und Menschenverächter". Ein Herzensanliegen der Präses war der "Rote Faden Migration", der den Kirchentag mit über hundert Veranstaltungen durchzog.
Von ihrem Amtsvorgänger Alfred Buß übernahm Kurschus das entschiedene Eintreten für mehr Klimaschutz. In ihre Amtszeit fielen auch Entscheidungen der westfälischen Kirche für die weitgehende Gleichstellung homosexueller Paare, eine Stärkung des Pfarrdienstes und die Aufarbeitung von Fällen sexuellen Missbrauchs.
Nachdem Kurschus das Ruder in einem relativ ruhigen Fahrwasser mit konsolidierten Finanzen übernahm, steht ihre Landeskirche nun angesichts sinkender Einnahme- und Mitgliederzahlen vor enormen Herausforderungen. "Es wird einen gewaltigen Umbruch geben - finanziell, aber auch personell", sagt Jähnichen. "Deshalb stehen Einschnitte und schwierige Entscheidungen bevor."
Der Umbruch biete aber auch die Chance, sich neu aufzustellen und neue Wege zu eröffnen, betont der Theologe, der auch Mitglied der westfälischen Kirchenleitung ist. "Es ist in den kommenden acht Jahren eine zentrale Aufgabe, diesen Wandel sensibel und gut zu gestalten - die Einschnitte, aber auch die Chancen." Kurschus ist zuversichtlich, dass auch eine kleinere Kirche "künftig ihre Ausstrahlung in die Welt behalten kann", wenn sie bei ihrem Kernauftrag bleibe, die Liebe Gottes weiterzugeben.