Pfarrer Kai Feller sammelte als Jugendlicher in der DDR Unterschriften gegen die Militärparade.
Privat
Pfarrer Kai Feller kehrte an seine alte Schule zurück, um mit Jugendlichen zu diskutieren.
"Der alte Geist ist völlig verschwunden"
Pfarrer Kai Feller flog in der DDR von seiner Schule - jetzt kam er dorthin zurück
Weil er das Ende von Militärparaden gefordert hatte, wurde Kai Feller 1988 von seiner Ostberliner Schule geworfen. Jetzt kehrte der evangelische Pfarrer dorthin zurück, um mit den Schülerinnen und Schülern zu diskutieren.

Das Carl-von-Ossietzky-Gymnasium im Berliner Bezirk Pankow ist ein wuchtiges Gebäude. Türmchen, Säulen und verspielte Ornamente zieren die Vorderfront und lassen auf verwinkelte Zimmer und Flure im Inneren schließen. In der Tat hat das 1909 erbaute Haus in seiner Geschichte einige Wendungen erlebt. Die wichtigste spielte sich 1988 ab. Sie geriet zur Staatsaffäre, in die hochrangige Politiker verwickelt waren. Die Affäre um die Erweiterte Oberschule (EOS) "Carl von Ossietzky", wie das Gymnasium in der DDR-Zeit hieß, war eines von vielen Ereignissen, die 1989 zum Fall der Berliner Mauer beitrugen.

Kai Feller war 1988 einer der Protagonisten der Affäre. Heute ist der Familienvater evangelischer Pfarrer in Norddeutschland. Im September 1988 war er sechzehn Jahre alt und seit ein paar Tagen Schüler der elften Klasse an der EOS "Carl von Ossietzky". Die Zeiten waren stürmisch. Die Hoffnungen vieler DDR-Bürgerinnen und -Bürger ruhten auf Michail Gorbatschow, seit 1985 Kremlchef in Moskau. Er hatte in der Sowjetunion innenpolitische Reformen begonnen und zusammen mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan Schritte zur Abrüstung eingeleitet.

Artikel gegen Militärparaden

Da stürzten bei einer militärischen Flugschau im rheinland-pfälzischen Ramstein drei Flugzeuge ab. Siebzig Menschen starben. An der EOS in Ostberlin war die Katastrophe tagelang Thema. Die Lehrer wollten den Schülern weismachen, dass so etwas nur im Westen passiert. Am 7. Oktober – dem "Republikgeburtstag" – sollten nämlich auch in diesem Jahr wieder Panzer durch die DDR-Hauptstadt rollen. Kai Feller fand: Militärparaden sind unzeitgemäß - gleichgültig, ob sie in der Bundesrepublik oder in der DDR stattfinden. Er schrieb einen Artikel und forderte, den Aufmarsch am 7. Oktober abzusagen. Den Schülern war zuvor gesagt worden, dass sie ihre Meinung am "Speaker’s Corner", dem Schwarzen Brett der Schule, kundtun konnten. Dort hängte Feller seinen Artikel aus.

Ein paar Tage zuvor hatten dort schon zwei andere Schüler einen Artikel veröffentlicht, in dem sie mit der polnischen Demokratiebewegung sympathisierten. Ihr Mut kam an. Als Feller sich entschloss, auch noch Unterschriften gegen Militärparaden zu sammeln, unterzeichneten 38 von 160 Schülern der EOS. "Ich wollte eigentlich keine Fundamentalkritik am Staat üben", erinnert er sich, "sondern vor dem Hintergrund der Abrüstungsverhandlungen von Sowjetunion und USA einen konkreten Vorschlag machen."

Doch die Schuldirektion und die Vertreter der sozialistischen Jugendorganisation "Freie Deutsche Jugend" (FDJ) waren noch nicht so weit wie der Reformer in Moskau. Es hagelte FDJ-Versammlungen und Elterngespräche. Aufgrund des Drucks zog ein großer Teil der Schüler seine Unterschrift zurück. Nicht nur das: Egon Krenz, zweiter Mann im Staat nach Erich Honecker, und dessen Frau, die Volksbildungsministerin Margot Honecker, bekamen von der Sache Wind. Die "Eiserne Lady" der DDR sorgte höchstselbst für hartes Durchgreifen.

Welle der Solidarität

Die Schülerinnen und Schüler, die bei ihrer Meinung geblieben waren, wurden aus der FDJ ausgeschlossen. Alle Schüler der EOS wurden in der Aula zusammengerufen zu einer Art Schauprozess. Viele von ihnen weinten. Kai Feller und drei seiner Mitstreiter wurden vor aller Augen und Ohren von der Schule geworfen. Zwei andere wurden an eine andere Schule versetzt, zwei weitere erhielten einen Verweis. "Dass wir unterschiedliche Strafen erhielten, hatte System", erinnert sich Feller. "Sie wollten uns entzweien." Inzwischen war ihm auch klar geworden, warum die SED-Führung so heftig auf seine Kritik reagierte: "Polizei und Militär waren ja die Grundlagen ihrer Macht. Und die Militärparaden waren eine Metapher für diese Macht, die sie nach innen und nach außen zeigte."

Nun geschah etwas, womit Krenz und Honecker nicht gerechnet hatten: Die rausgeworfenen Schüler erlebten eine Welle der Solidarität. "Wir erhielten ganz viel Post, auch aus kirchlichen Kreisen", erinnert sich Kai Feller. Seitens der evangelischen Kirche verhandelte Konsistorialpräsident Manfred Stolpe mit Vertretern des Staates darüber, dass die Schüler an die EOS zurückkehren konnten. Vergeblich. Marianne Birthler, damals Jugendreferentin im Stadtjugendpfarramt, forderte die Gemeinden in einem Offenen Brief dazu auf, den Fall zu diskutieren. "Sie rief für uns ein Projekt ins Leben", sagt Kai Feller: "Anders lernen. Wir gingen weiter zur Schule, einmal pro Woche und selbstbestimmt."

Abitur im "Kirchenasyl"

Seinen Lebensunterhalt verdiente Kai Feller zunächst als Pfleger in einem Heim für behinderte Kinder. Margot Honecker hatte wohl den Plan verfolgt, dass die rausgeschmissenen Schüler nirgendwo in der DDR noch ihr Abitur ablegen konnten. Doch im Sommer 1989 lag der Staat in seinen letzten Zügen. Im September 1989 konnte Kai Feller deshalb doch noch einmal die elfte Klasse beginnen – an einem Evangelischen Gymnasium in Potsdam. "Ich wurde als einziger Ungetaufter dort aufgenommen und genoss eine Art Kirchenasyl", sagt er. "Das hat mir sehr gut getan." Wie die Menschen an dieser Schule miteinander umgingen, das war für ihn eine völlig neue Welt: "Die Lehrerinnen und Lehrer – das waren Persönlichkeiten, die selbständig gedacht und uns zum selbständigen Denken angeregt haben."

Als im Herbst 89 dann die großen Demonstrationen begangen, forderten viele Menschen auch, die Ossietzky-Affäre aufzuarbeiten. Eine Untersuchungskommission wurde ins Leben gerufen. An der Schule flossen erneut Tränen, dieses Mal die der Lehrer. Einige hatten die Affäre genutzt, um persönliche Machtgelüste zu befriedigen. Andere hatten vorsichtig versucht, sich für die Schüler einzusetzen, die minderjährig und somit ihre Schutzbefohlenen gewesen waren. So hatte eine Klassenleiterin gesagt, sie sei auch gegen Militärparaden, lehne aber die Form der Kritik ab, die die Schüler gewählt hatten. Inzwischen hat die Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen Dokumente zur Ossietzky-Affäre ins Internet gestellt. Sie dienen unter anderem als Anschauungsmaterial für den heutigen Schulunterricht – darüber, wie eine Diktatur funktioniert, und wie sich Menschen darin verhalten.

Kai Feller erhielt noch 1989 das Angebot, an die EOS "Carl von Ossietzky" zurückzukehren. Er lehnte ab, weil es ihm an dem Evangelischen Gymnasium so gut gefiel: "Täglich hatte ich mit den Christen zu tun, und das hat mich einfach überzeugt, dieses Weltoffene, Solidarische." Gegen Ende seiner Schulzeit ließ er sich taufen – und schrieb sich dann in Berlin für Evangelische Theologie ein. Nach dem Studium trat er in Mecklenburg-Vorpommern seine erste Pfarrstelle an. Dieser Tage gibt er sie nach 17 Jahren auf – für eine neue Pfarrstelle in Ratzeburg, wo er sich unter anderem um Fragen der Ökumene kümmert. In seiner Freizeit engagiert sich Feller für Menschen, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden – so auch in Vietnam, wo er während eines Sabbaticals Opfer von Polizeieinsätzen mitbetreute. "Wenn das Schicksal Einzelner bekannt wird, gibt es ihnen Kraft", sagt er.

Begeistert vom jugendlichen Engagement

Das Carl-von-Ossietzky-Gymnasium lädt die Protagonisten von einst hin und wieder zu Gesprächen ein – vor ein paar Tagen auch Kai Feller. In der Aula, wo einst der Schauprozess gegen ihn und seine Mitstreiter stattfand, diskutierte er nun mit den heutigen Schülerinnen und Schülern. "Was bedeuten die Umbrüche von 89 für uns?", lautete das Thema der öffentlichen Veranstaltung.

Mit der DDR können die meisten Jugendlichen kaum noch etwas anfangen – und zwar unabhängig davon, ob ihre Eltern dort gelebt haben oder nicht, berichtete der Lehrer, der die Veranstaltung mit organisiert hatte. Sich zu engagieren, das bedeutet für die heutigen Schülerinnen und Schüler vor allem, gegen den Klimawandel zu kämpfen. Viele von ihnen erzählten, dass sie zu "Fridays for Future"-Demonstrationen gehen und sich Gedanken machen, wie sie natürliche Ressourcen schonen können.

Kai Feller ist von den Gesprächen mit ihnen begeistert: "Im Unterschied zu uns damals können sich die Schülerinnen und Schüler frei äußern, ohne Sorge zu haben, was für Nachteile ihnen das bringt. Sie gehen fair miteinander um und hören sich andere Argumente an. Zu unserer Zeit gab es nur Schwarz-Weiß-Denken. Der alte Geist ist aus dieser Schule völlig verschwunden."