Karlsruhe (epd). Hartz-IV-Bezieher müssen bei wiederholtem Fehlverhalten ab sofort nicht mehr mit einer Kürzung ihres Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 Prozent rechnen. Die starren dreimonatigen Sanktionen in Höhe einer Leistungskürzung von 60 oder 100 Prozent seien unverhältnismäßig und verletzten das vom Staat zu gewährende menschenwürdige Existenzminimum, entschied am Dienstag das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem Grundsatzurteil. (AZ: 1 BvL 7/16)
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bezeichnete die Gerichtsentscheidung als ein "weises, ausgewogenes Urteil". Das Grundsatzurteil biete eine Chance auf gesellschaftliche Befriedung und gebe Rechtssicherheit in der 15-jährigen Debatte, sagte Heil nach der Urteilsverkündigung in Karlsruhe.
Geklagt hatte ein Hartz-IV-Bezieher aus Thüringen. Er hatte eine vom Jobcenter Erfurt vorgeschlagene Stelle als Lagerarbeiter bei Zalando abgelehnt, da er lieber im Verkauf arbeiten wollte. Kurz darauf ließ er noch einen Vermittlungsgutschein für eine Probearbeit verfallen. Das Jobcenter kürzte ihm daraufhin für drei Monate sein Arbeitslosengeld II in Höhe von 391 Euro monatlich zunächst um 30 Prozent (117,30 Euro) und dann um 60 Prozent (234,60 Euro).
Das Sozialgericht Gotha hielt die Sanktionsregelungen für verfassungswidrig. Das vom Staat zu gewährende menschenwürdige Existenzminimum dürfe nicht auf diese Weise weiter gemindert werden.
Das Bundesverfassungsgericht urteilte nun, dass das bisherige Sanktionssystem in Teilen verfassungswidrig ist und gegen die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip verstößt. Der Staat müsse das menschenwürdige Existenzminimum eines jeden Einzelnen sicherstellen.
Langzeitarbeitslose seien allerdings zur Mitwirkung verpflichtet, damit ihre Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Erwerbsarbeit überwunden werden könne. Es sei daher zumutbar, dass Betroffene auch geringerwertige Tätigkeiten nachgehen, als sie bislang ausgeübt haben. Weder verstoße dies gegen das Verbot der Zwangsarbeit, noch müsse immer auf den persönlichen Berufswunsch Rücksicht genommen werden.
Allerdings müsse eine Sanktion bei einem Verstoß gegen die Mitwirkungspflichten verhältnismäßig und geeignet sein, eine Verhaltensänderung zu erzielen. Bislang gebe es jedoch keine ausreichenden Erkenntnisse, inwieweit Sanktionen Anreize zur Arbeitsaufnahme bewirken, entschied der Erste Senat des höchsten deutschen Gerichts.
Eine 30-prozentige Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei einem Pflichtenverstoß sei wegen der angenommenen Abschreckungswirkung noch plausibel und zumutbar. Voraussetzung hierfür sei aber, dass das Jobcenter auch individuelle Härtefälle prüfen und gegebenenfalls auf eine Leistungsminderung verzichten muss. Auch dürften Sanktionen nicht starr drei Monate andauern. Der Leistungsberechtigte müsse die Möglichkeit haben, bei einer Verhaltensänderung wieder höhere Hartz-IV-Leistungen zu bekommen.
Die gesetzliche Vorgabe, dass Hartz IV bei einer Pflichtverletzung ohne weitere Prüfung immer für drei Monate zu kürzen sei, sei verfassungswidrig, entschied das höchste deutsche Gericht. Nach derzeitigen Erkenntnissen über die Wirkung von Sanktionen gelte dies erst recht für Leistungskürzungen von 60 oder gar 100 Prozent. Es sei nicht belegt, dass Hilfebedürftige mit derart harten Kürzungen leichter wieder in den Arbeitsmarkt gebracht werden könnten.
Bis zu einer erforderlichen Gesetzesänderung gelte daher eine Übergangsregelung. Danach dürfen ab sofort keine Sanktionen von mehr als 30 Prozent verhängt werden. Jobcenter müssen auch Härtefälle berücksichtigen und gegebenenfalls auf eine Sanktion verzichten. Werde die Mitwirkungspflicht nachträglich erfüllt oder sei eine Verhaltensänderung zu erwarten, könne das Jobcenter wieder die volle Leistung gewähren. Über die noch strengeren Sanktionsvorschriften für bis zu 25 Jahre alte Hartz-IV-Bezieher hatten die Verfassungsrichter nicht zu entscheiden.