Früher galt die Großstadt als Moloch, in dem Mord und Totschlag grassieren, und für die klassischen Reihen und Serien stimmt das immer noch; aber gerade das ZDF siedelt seine Krimis seit einigen Jahren gern in entlegenen Gegenden an. Das ist auch eine Frage des Programmauftrags, schließlich soll das öffentlich-rechtliche Fernsehen nicht nur die Metropolen abbilden. Der österreichische ORF hat 2014 mit dem "Landkrimi" sogar eine Art Pendant zum urbanen "Tatort" eingeführt.
Provinzkrimis haben zudem einen dramaturgischen Vorteil, den auch der erste "Erzgebirgskrimi" weidlich nutzt: Die Ermittler kommen aus der Stadt und werden auf dem Land mit einer Welt konfrontiert, in der die Uhren anders laufen. In diesem Fall gilt das ganz besonders, denn das Erzgebirge ist dank seines Sagenreichtums ein Schauplatz, an dem Autoren – Krimiroutinier Jürgen Pomorin (alias Leo P. Ard) hat das Drehbuch gemeinsam mit dem Produzenten Rainer Jahreis geschrieben – aus dem Vollen schöpfen können. Und noch eins zeichnet die Region aus: Seit Jahrhunderten ist das sächsische Mittelgebirge vom Bergbau geprägt. Früher wurden vor allem Silber und Marmor gefördert, zu DDR-Zeiten ist hier Uran für die Atomraketen der Sowjetunion abgebaut worden. Heute heißt das Zauberwort Lithium; und darum geht es in "Der Tote im Stollen".
Mit dem Leichenfund beginnt der Film auch. Schon der geschickt eingefädelte Auftakt deutet an, dass Pomorin und Jahreis keinen Krimi von der Stange erzählen wollten. Kommissar Ralf Adam (Stephan Luca) war zuletzt in Berlin und muss sich erst mal an den besonderen Menschenschlag im Erzgebirge gewöhnen. Er selbst ist allerdings auch recht speziell; seine jüngere Kollegin Karina Szabo (Lara Mandoki) scheitert immer wieder bei dem Versuch, ihn dazu zu bewegen, etwas Persönliches preiszugeben. Rechtsmedizinerin und Gutsbesitzerin Charlotte von Sellin (Adina Vetter), die sich in ihrer Freizeit auch mal auf den Traktor setzt, ist dagegen umso redseliger; die kessen Dialoge der beiden gutgelaunten Frauen machen großen Spaß und lassen Adam noch eigenbrötlerischer wirken. Allerdings trägt der Kommissar auch ein Trauma mit sich herum, wie sein klaustrophobisches Unbehagen im Stollen und spätere regelmäßige Alpträume verdeutlichen; selbstredend muss er seine Phobie am Ende überwinden, um die junge Kollegin zu retten.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Ermittler-Ensemble ist also schon mal sehenswert und schauspielerisch zudem ansprechend zusammengestellt. Die Geschichte ist ebenfalls interessant, selbst wenn die angebotenen Verdachtsmomente – hat ein Wilderer (Hansjürgen Hürrig) das erschlagene Opfer auf dem Gewissen, handelt es sich um ein klassisches Eifersuchtsdrama? – zunächst nicht weiter originell wirken. Der Tote war zu Lebzeiten Professor an der Bergakademie Freiberg, die Ehe war glücklich, heißt es, aber Besetzung und Darstellerführung säen umgehend Zweifel. Tatsächlich brauchen Adam und Szabo nicht lange, um rauszufinden, dass der Professor seine Frau mit einer Studentin betrogen hat. Die Witwe (Kattrin Bühring) wiederum hat ein Verhältnis ausgerechnet mit Hellmanns Erzfeind an der Hochschule; Arnd Klawitter gehört zu jener bedauernswerten Schauspielspezies, die regelmäßig als Verdächtige besetzt wird. Letztlich ist es der regionale Charakter, der die Story aus dem Krimialltag heraushebt: Hellmann wusste dank einer alten Karte, wo es sich lohnt, nach Lithium zu suchen. Reizvoller sind jedoch die rätselhaften Einschübe mit ihren Bezügen zur Sagenwelt des Erzgebirges. So geistert zum Beispiel regelmäßig die "Weiße Frau von Schneeberg" durch die Szenerie, eine Unheilsbotin, die den Tod ankündigt; prompt muss auch Hellmanns Geliebte sterben, nachdem ihr die "Weiße Frau" erschienen ist. Trotz einiger kleiner Schauermomente ist der Krimi dennoch durchaus familientauglich.
Leider hält Inszenierung nicht ganz, was die Geschichte verspricht. Ausgesprochen einfallslos sind beispielsweise die vielen Kameraflüge, die praktisch jede Autofahrt begleiten und viele Szenenwechsel einleiten; Regie führte Ulrich Zrenner, der in den letzten Jahren fast ausschließlich fürs ZDF gearbeitet und diverse Episoden für Reihen wie "Ein starkes Team" oder "Unter Verdacht" sowie viele Serienepisoden gedreht hat. Immerhin setzt Kameramann Andreas Doub, der in den Filmen von Hannu Salonen regelmäßig für besondere Bilder gesorgt hat, optische Akzente; gerade das Licht in den Nachtaufnahmen ist mit großer Sorgfalt gestaltet. Sehr gelungen ist auch der sympathische Tonfall des Films: "Der Tote im Stollen" ist zwar keine Komödie, aber viele Wortwechsel sind ziemlich amüsant.
Eigentlicher Star des Films ist jedoch die Region, die im Unterschied zum Elbesandsteingebirge oder zum Harz bislang nur selten Filmschauplatz gewesen ist, obwohl die einheimischen Sitten und Gebräuche eine wahre Fundgrube an Geschichten bietet. Ein zweiter "Erzgebirgskrimi" mit den gleichen Teams vor und hinter der Kamera ist bereits abgedreht, der Bezug zur Region wird darin laut ZDF noch größer sein. Die Ausstrahlung ist für das Frühjahr 2020 geplant.