Im Jahr 2017 hatte ZEIT-ONLINE zum ersten Mal Menschen miteinander verbunden, die nahe beieinander wohnen, aber laut eines Fragebogens sehr entgegengesetzte Meinungen haben. Offene Grenzen, der Aufschwung der AfD, eine mögliche Ehe für alle – das waren und sind einige der kontroversen Themen des ersten Jahres. 14.000 Paare fanden sich so erst digital und dann persönlich zusammen und sprachen.
Für diese Idee und ihre Umsetzung hatte die Redaktion im Jahr 2018 einen Grimme-Online-Award bekommen. Menschen aus anderen Ländern der ganzen Welt kopierten das Konzept bereits. Dieses Jahr bringt die ZEIT-ONLINE-Redaktion knapp 14.000 Menschen zusammen.
30. Oktober 2019, ein Mittwoch, Bernward Kraus und ich treffen uns vor der Paulskirche in Frankfurt. Was wir vorher voneinander wussten: Er ist 64 Jahre alt, Architekt. Ich: 36 Jahre alt, Journalistin. Wir sind beide verheiratet; er hat eine Fernbeziehung, ich wohne mit meinem Partner an einem Ort. Er sagt: Ja, Frauen haben die gleichen Chancen in Deutschland wie Männer. Ich: Nein, haben sie nicht. Er: Ja, Einwanderung macht Deutschland unsicherer. Ich: Nein, macht sie nicht. Er sagte: Nein, der Staat soll nicht in den Immobilienmarkt eingreifen. Ich sagte: Ja, der Staat soll eingreifen.
Der Fragebogen hatte uns lediglich die Möglichkeit gegeben, auf die vorgegebenen Sätze mit ja oder nein zu antworten. Gleich als wir uns treffen, beginnen wir schon abzuwägen: „Bei manchen Sätzen hätte ich ja und nein ankreuzen können.“ Wir setzen uns zusammen in eine Reihe in der Paulskirche. Die ZEIT-ONLINE-Redaktion hat hier und in Dresden ein Programm für diesen Tag organisiert, sodass die Paare einen guten Start für ihr Gespräch haben.
Wir hören, dass 600 Menschen im Saal seien. Die meisten davon sind „Deutschland spricht“-Paare, so wie wir. Wir hören außerdem, dass Menschen unter 30 und über 60 Jahren am weitesten mit ihren Ansichten auseinander lägen, danach folgen Frauen und Männer, ganz unten sind die unterschiedlichen Ansichten von Menschen aus Ost und West – die seien also gar nicht so unterschiedlich.
Sprechen Sie Ost- oder Westdeutsch?
Die Autorin Jana Hensel steht vor uns 600 Menschen, die wir in Reihen sitzen, sagt, dass sie sowohl West- als auch Ostdeutsch spreche und dass die Westdeutschen sich im Osten ihre Identität wie einen Regenmantel überstülpten und die Ostdeutschen im Westen immer noch die Ostdeutschen blieben. Bernward und ich wissen, was sie meinen könnte, sind uns aber nicht ganz so sicher.
Anfang der 1980er war Bernward in West-Berlin als Gast an der Universität eingeschrieben und ist mehrfach nach Ostberlin gefahren. Es sei exotisch dort gewesen; ein Taxi hatte er am Alexanderplatz nicht bekommen, er winkte sogar mit einem Geldschein, weil sie nicht anhielten. Ein Mann in einem normalen PKW habe angehalten und ihm erklärt, dass die Taxifahrer doch ein Gehalt bezögen und sie es gar nicht nötig hätten, ihn mitzunehmen – dafür habe der Mann im PKW ihn dann ein wenig herumkutschiert.
Ich war sechs Jahre alt 1989 und malte Steine mit Wasserfarbe an und sagte den Nachbarn, die seien von der Berliner Mauer. Zwei Tage später brachte mein Vater echte Steine mit, da musste ich nicht mehr mogeln.
"Wir haben zusammen gelacht und uns erklärt, aus welcher Erfahrung heraus wir welche Antworten gegeben haben."
Einige Zeit nach der Geburt meiner Tochter stand das Mütter-Erziehungsgeld auf der politischen Agenda der CSU, von ihren Gegnern polemisch Herdprämie genannt. Damals machte ich einen Radiobeitrag zum Thema Rabenmütter und Hausmütterchen. Das Rollenverständnis von Mann und Frau ist schon lange im Umbruch, viele Paare und Familien versuchen ihre Version in ihren Alltag zu überführen.
Bernwards Frau ist beruflich erfolgreich und arbeitet Vollzeit, sie sage, dass Frauen, die es wirklich wollten, schon immer alles werden konnten. Ich sehe das auch so; sehe aber auch, dass der familiäre Druck auch enorm sein kann und eine Gesellschaft auch die Freiheit in der Rollenwahl zulassen muss, so dass alle davon profitieren können. Nicht jeder Mensch befindet sich gleichermaßen in der Lage die Chancen zu nutzen, die bereitstehen.
Ein großes und hoffnungsvolles Vermächtnis hätten wir da im Jahr 1989 mit dem Mauerfall bekommen. Götz Frommholz steht vor uns auf der Bühne und spricht über Politik in Europa, die die Menschen in den Ländern polarisiere. Politik in Europa, ja, sogar in der EU, die sich nicht mehr an der EU-Grundrechte-Charta orientiere. Stichwort fehlende Pressefreiheit in Ungarn. Götz Frommholz hat, auch aus beruflichen Gründen, viele Beispiele dafür, was alles schief läuft. Er ist Policy Analyst bei der Open Society Foundations.
Bernward und ich sind uns einig, dass wir es in Deutschland ganz gut haben. Wir sind beide schon häufiger über die Kurzsichtigkeit politischer Maßnahmen erschrocken - seien es eigenmächtige Entscheidungen eines Verkehrsministers oder einer Kanzlerin, die finanziell dramatische Auswirkungen haben. Dennoch sind wir sicher, mit der Demokratie das beste System zu haben.
Wie kontrovers es bei den anderen Paaren zugegangen ist, wissen wir nicht. Bei uns war es recht harmonisch. Bernward und ich kommen aus etwas unterschiedlichen Kontexten und führen auch unterschiedliche Leben; für mich war es gerade deshalb interessant. Wir haben zusammen gelacht und uns erklärt, aus welcher Erfahrung heraus wir welche Antworten gegeben haben. "Wir bleiben in Kontakt", sagt Bernward, als wir uns am Abend vor der Kleinmarkthalle in Frankfurt trennen, um wieder unserer Wege zu gehen.
So war es bei Deutschland spricht in der Frauenkirche in Dresden