Der Effekt ist gleichermaßen verblüffend wie faszinierend: Plötzlich werden van Goghs Gemälde lebendig. Letztlich ist das Zeichentrick, doch im Unterschied zu den Produktionen des modernen Animationsgenres, die ausschließlich am Computer entstehen, ist "Loving Vincent" Handwerk im klassischen Sinn: Über hundert Künstler, versichert der Vorspann, haben diese Bilder gezeichnet.
Ähnlich ungewöhnlich ist der erzählerische Ansatz. Die Lebensgeschichte van Goghs ist schon öfter verfilmt worden; im Grunde ist Vincente Minellis Klassiker "Ein Leben in Leidenschaft" (1956) mit Kirk Douglas nichts mehr hinzuzufügen. Robert Altman hat sich in "Vincent und Theo" (1990) auf das Verhältnis der beiden van-Gogh-Brüder konzentriert, und darum geht es letztlich auch in "Loving Vincent": Der Künstler war komplett auf die Unterstützung seines jüngeren Bruders angewiesen, was angeblich auch eins der Motive für seinen Freitod 1890 war. Dorota Kobiela und Hugh Welchman (Buch und Regie) betten die Biografie in eine Handlung, die zumindest Züge eines Krimis trägt: Als ein Jahr nach van Goghs Suizid ein letzter Brief das Malers an Theo auftaucht, bittet der zuständige Briefträger, der mit Vincent befreundet war, seinen wenig begeisterten Sohn Armand, das Schreiben persönlich zuzustellen. In Paris muss der junge Mann feststellen, dass Theo mittlerweile ebenfalls verstorben ist. Als er mehr über die beiden Brüder erfährt, ist seine Neugier geweckt; er fragt sich, warum sich Vincent, der zu Lebzeiten bloß ein einziges Bild verkauft hat, ausgerechnet auf der Schwelle zum Ruhm erschossen hat, und trifft einen Arzt, der ihm die seiner Ansicht nach wahren Todesumstände darlegt: Er ist überzeugt, dass Vincent van Gogh ermordet worden ist.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Diese Geschichte ist so ungewöhnlich, dass "Loving Vincent" vermutlich auch funktionieren würde, wenn Kobiela und Welchman sie mit herkömmlichen Mitteln erzählt hätten. Das hat wie bei allen wirklich guten Animationsproduktionen einen verblüffenden Effekt zur Folge: Anfangs steht die Technik im Vordergrund, aber irgendwann fesselt der Film nicht mehr in erster Linie durch die ausgefallene Optik, sondern durch die Kombination von Handlung und Umsetzung. Trotzdem ist es natürlich die Bildgestaltung, der das Werk seine Ausnahmestellung verdankt. Über 120 van-Gogh-Bilder dienten als Vorlage für die verschiedenen Schauplätze. Gedreht wurde zunächst mit leibhaftigen Schauspielern, deren animierte Versionen später in die zum Teil variierten Gemälde integriert wurden. Weil es für viele Szenen, in denen Armands Gesprächspartner vom Leben des Künstlers erzählen, keine entsprechenden Vorlagen gab, sind diese Rückblenden durchgehend in Schwarzweiß gehalten. Die beteiligten Künstler haben sich dabei inklusive der speziellen Pinselführung konsequent an van Goghs Stil orientiert. Der Film macht daher mindestens doppelt so viel Spaß, wenn man sich vorher ein bisschen mit dem Maler und seiner Arbeit beschäftigt, weil "Loving Vincent" auf diese Weise zu einer Entdeckungsreise durch sein Werk wird.