In "Sind Tote immer leichenblass?" versichert der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Berliner Charité zum Beispiel, seine Kollegen und er würden niemals "auf die Idee kommen, nach Feierabend Verdächtige zu beschatten oder uns nachts (unrechtmäßig) Zutritt zu einem Tatort zu verschaffen." Bei seinem Romanhelden Fred Abel ist Tsokos etwas großzügiger: In "Zerschunden", der zweiten Sat.1-Adaption mit Tim Bergmann in der Titelrolle, muss der Rechtsmediziner vom BKA in Berlin einen Serienmörder überführen, um die Unschuld eines Freundes zu beweisen.
Ähnlich wie beim ersten Film ("Zersetzt", 2018) bildet eine Befragung Abels durch den blasierten Generalstaatsanwalt Rubin (Dietmar Bär) zunächst den Rahmen: Der Rechtsmediziner hat seine Kompetenzen überschritten, als er nach einem Leichenfund ein Täterprofil erstellt hat ("affektgesteuert, Verlust der Impulskontrolle"). Mit dem Vorwurf könnte er vermutlich leben, aber gemeinsam mit einer bestimmten DNS-Zuordnung passt das Raster perfekt auf einen früheren Freund und Bundeswehrkameraden, Lars Moewig (Jarreth Merz). Nach der Festnahme des Mannes beginnt ein Wettlauf mit der Zeit: Moewigs Tochter Nele hat Leukämie und liegt im Sterben. Der hartherzige Rubin verweigert dem Vater jedoch die Erlaubnis, seine Tochter ein letztes Mal zu sehen, weshalb sich Neles Mutter (Christina Hecke) schließlich zu einer Verzweiflungstat hinreißen lässt. Weil Abel überzeugt ist, dass der Täter schon häufiger gemordet hat, lässt er seine Kontakte zu den Kollegen im Ausland spielen. Tatsächlich stößt er auf eine blutige Spur, die sich quer durch Europa zieht und dem Mörder schließlich den Spitznamen "Miles & More-Killer" verschafft: Die Taten ereigneten sich alle in der Nähe von Flughäfen; Ausgangspunkt der Reisen war stets Brüssel.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Team hinter der Kamera ist exakt das gleiche wie bei "Zersetzt": Regisseur Hansjörg Thurn hat das Drehbuch gemeinsam mit Christian Demke geschrieben, die Bildgestaltung besorgte Sonja Rom. Die Umsetzung wirkt auch dank diverser internationaler Schauplätze erneut sehr aufwändig, zumal Thurn ganz offensichtlich daran gelegen war, bildsprachliche Akzente zu setzen. Während die extremen Nahaufnahmen von Bergmanns Gesicht etwas gewöhnungsbedürftig sind, sorgen kleine Bildverschiebungen immer wieder für Irritationen. Solche Momente sind gern ein Signal dafür, dass eine Hauptfigur neben der Spur ist. Rubin ist ohnehin überzeugt, dass Abels Urteilsvermögen massiv beeinträchtigt ist, und besteht auf einer psychologischen Untersuchung. Abgesehen von seiner ständigen Übermüdung plagt den Rechtsmediziner auch das schlechte Gewissen, schließlich hatte er maßgeblichen Anteil daran, dass Moewig eine Mordanklage droht, aber die eigentliche Ursache für seinen psychischen Stress ist die gestörte Beziehung zur todkranken Mutter, von der er mal sagt, sie sei für ihn schon lange gestorben.
Diese Ebene wirkt jedoch wie ein allzu bemühter Versuch, eine Parallele zwischen Abel und dem Mörder herzustellen. Dessen ausschließlich weibliche Opfer weisen in einem weiteren entscheidenden Merkmal Ähnlichkeit mit der eigenen Mutter auf. Seine Taten sind ein furchtbarer Rachefeldzug; ein klassisches Motiv vieler filmischer Serienmörder. Interessanter als der Täter ist ohnehin die belgische Kommissarin Lilou Meran (Anita Olutunji), die ebenso wie der Killer nordafrikanische Wurzeln hat und sich regelmäßig über die typischen Vorbehalte der Westeuropäer aufregt, weshalb sie nur widerwillig mit Abel zusammenarbeitet. Anders als der Rechtsmediziner, dessen Narben seelischer Natur sind, trägt die Polizistin die Spuren ihrer bitteren Jugend im Gesicht.
Wie schon bei "Zersetzt" ist es Thurn, der seit vielen Jahren regelmäßig aufwändige Projekte für ProSiebenSt.1 realisiert (von "Die Schatzinsel" über "Die Wanderhure" bis zu "Die Ketzerbraut"), erneut gelungen, viele hochinteressante rechtsmedizinische Details zu vermitteln, ohne den Stoff zum Lehrfilm werden zu lassen. "Zerschunden" ist im Gegenteil ein fesselnder Thriller mit einer Hauptfigur, die auch dank der Verkörperung durch Tim Bergmann nur bedingt das Zeug zum strahlenden Helden hat. Abels Lebensgefährtin (Annika Kuhl) ist beispielsweise hochgradig verstört, dass ihm ausgerechnet während des Beischlafs die Lösung für ein medizinisches Rätsel eingefallen ist: Die großflächigen Druckstellen auf den Leichen sind das Ergebnis einer innigen postmortalen Umarmung; der Mörder hat im Tod Geborgenheit gesucht. Dass Abel den Täter schließlich mit der Waffe in der Hand höchstpersönlich zur Strecke bringt, ist der größtmögliche Widerspruch zu Tsokos’ Distanzierung vom TV-Klischee der Rechtsmediziner; selbst wenn die gemeinsam mit Andreas Gößling verfassten Romane das Etikett "True-Crime-Thriller" tragen. Der schockierende Schluss schürt mit Erfolg die Neugier auf den dritten Film, "Zerbrochen", den Sat.1 in einer Woche zeigt.