"Nichts bleibt so, wie es ist und alles kann auch wirklich grundlegend besser werden", sagt Stephan Bickhardt, evangelisch-lutherischer Theologe und DDR-Bürgerrechtler. Das ist wohl das Lebensmotto des heute 60-Jährigen. Bereits als junger Mann setzte er sich für Veränderungen ein, für bessere Arbeitsbedingungen. Während seiner Ausbildungszeit zum Werkzeugmacher organisierte er einen Lehrlingsstreik. Neben seiner Berufsausbildung legte er das Abitur ab, studierte Theologie und Pädagogik in Naumburg sowie am Sprachenkonvikt in Berlin.
In den 80er Jahren brachte er an der Seite von Jugendpfarrer Christoph Wonneberger den Sozialen Friedensdienst in die Diskussion. Zudem hielt der gebürtige Dresdner in der DDR einen Untergrundverlag am Laufen und war am 12. September 1989 in Berlin Mitbegründer von "Demokratie jetzt", einer programmatisch ausgerichteten Bürgerbewegung, die später in das Bündnis 90 überging.
Seine Beweggründe beschreibt er 30 Jahre später so: "Wir wollten leben, wir hatten Angst vor dieser hochgerüsteten Welt. Wir waren nicht bereit zu akzeptieren, dass die Mauer uns trennt von anderen Menschen."
Aufgewachsen in einer Dresdner Pfarrersfamilie lernte Bickhardt kritisches Hinterfragen - alles vor dem Hintergrund christlicher Werte. Im Jahre 1986 gründete der Bürgerrechtler und Systemkritiker zusammen mit Ludwig Mehlhorn den Untergrundverlag "radix-blätter", in dem Autoren unter ihren tatsächlichen Namen publizierten. Gedruckt wurde illegal. Das Versteck hinter dem Schlafzimmer seiner Eltern in einer kleinen Villa in Berlin-Kaulsdorf flog nie auf. "Niemand wusste, wo gedruckt wurde, nur meine heutige Frau, meine Eltern und ich", erzählt er.
Der Verlag brachte Pfingsten 1988 den Aufruf "Neues Handeln" heraus, um Leute zu mobilisieren. Die Autoren warben für die Aufstellung unabhängiger Kandidaten und dafür, bei der Auszählung der Stimmzettel anwesend zu sein - für eine bürgerschaftliche Kontrolle der Ergebnisse der DDR-Kommunalwahl im Mai 1989.
"Wir haben versucht, eine legale Opposition in den Grenzen des real existierenden Sozialismus zu formieren, und es ist uns gelungen, in einigen Städten Wahlfälschungen von 10 bis 15 Prozent nachzuweisen", erzählt Bickhardt: "Wir haben also eine Legitimationslücke des SED-Regimes aufgedeckt."
Der Theologe betont: "Dass wir mit klaren Namen arbeiteten und Gesicht zeigten, das war ein neuer Ansatz gegen die Diktatur, wir bekannten uns zu den Auffassungen, die wir vertraten." Publiziert haben für die "radix-blätter" Künstler, Theologen und Oppositionelle. Auch Kontaktadressen der Bürgerbewegung wurden bekanntgemacht.
Zurückhaltend war Bickhardt nicht. Vom DDR-Staat wurde er deshalb bespitzelt, glücklicherweise nie inhaftiert. "Mein Großvater hat immer gesagt, du kannst alles machen, aber bitte tu es nicht so, dass du ins Gefängnis kommst", zitiert er. Eine Inhaftierung sei natürlich nicht komplett auszuschließen gewesen. Aber, um dieser zu entgehen, habe er auf "Konzentration und Selbstbegrenzung" gesetzt.
Menschen haben Verantwortung übernommen
Der Großvater und sein Erzählen habe ihn geprägt, sagt Bickhardt. Die DDR hatte den Werksleiter ohne SED-Parteibuch wegen "Schädlingstätigkeit" ins Gefängnis gesperrt, nachdem sie ihn zu zwölf Jahren verurteilt hatte. Er saß von 1960 bis 1963 in Berlin-Hohenschönhausen. Erst nach seinem Tod erfuhr Bickhardt, dass er nach seiner Entlassung für die Stasi gearbeitet hatte. Bickhardt sagt darüber: "Ich habe ihm das nicht zu verzeihen."
1991 zog sich der Theologe aus der Politik zurück und konzentrierte sich auf seinen Pfarrerberuf. "Ich neige dazu, für die Dinge ganz und entschieden einzustehen", sagt er. Daher sei er einige Monate nach seiner Rückkehr ins Pfarramt aus der Partei Bündnis 90/Die Grünen ausgetreten - weil er frei sein und "für jeden und jede unzweifelhaft ansprechbar" sein wollte. Bickhardt war danach Pfarrer in Eberswalde und ab 1995 in Leipzig, 2007 wurde er zudem Polizeiseelsorger in Leipzig. Seit 2019 ist er Akademiedirektor der Evangelischen Akademie Meißen.
Den Herbst 1989 sieht Bickhardt nicht als "Wunder". Das Wort kläre wenig darüber auf, was die Leute gemacht haben. "Die Leute haben sehr viel gemacht", sagt er. Unendlich viele hätten mitgeholfen und seien namenlos geblieben. Rund 100.000 Menschen, schätzt er, waren damals bereit, auf ganz unterschiedliche Weise Verantwortung zu übernehmen. Dabei sei die Zeit "sehr viel mehr mit Angst besetzt gewesen, als man heute vermutet oder versteht." Was er gern von damals in die Gegenwart übertragen würde, das ist "der friedfertige Dialog untereinander". Es gebe "nichts Aktuelleres als das".