Im Zentrum seiner Arbeiten steht meist eine Identifikationsfigur, die als Insider unmittelbar beteiligt ist, aber dann Gewissensbisse bekommt. Diesem Muster folgt auch "Was wir wussten – Risiko Pille". Der ungriffige Titel klingt zwar eher nach Dokumentation, aber das erfahrene Autorenehepaar Eva und Volker A. Zahn verpackt die Tatsachen, auf denen ihr Drehbuch basiert, zumindest auf der wirtschaftlichen Ebene als fesselnde Handlung: Ein Pharmakonzern will eine Anti-Baby-Pille der neuesten Generation einführen. "Bellacara" soll wahre Wunder bewirken, denn neben der Schwangerschaftsverhütung ist die Pille auch gut gegen Akne. Die Risiken werden dagegen lieber verschweigen: Die Thrombosegefahr ist deutlich höher als bei früheren Medikamenten dieser Art. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive eines Mitarbeiters, der die Aufgabe hat, die medizinischen Fakten für die Zulassung zusammenzustellen: Der Mediziner Carsten Gellhaus (Stephan Kampwirth) setzt sich vergeblich dafür ein, dass der Beipackzettel auf die Nebenwirkungen hinweist.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Schon der Auftakt ist reizvoll. Der Film beginnt mit einer Art Werbespot im bonbonbunten Stil eines YouTube-Beitrags: Zwei blonde Teenager-Püppchen schwärmen in dem flott montierten Video über die Wunderpille, die für wunderschön glatte Haut und einen tollen Busen sorgt; und dann kippt die heitere Stimmung, die Mädchen fangen an zu röcheln und sprechen von Thrombosen. Sehr viel später, wenn der Film den Prolog wieder eingeholt hat, stellt sich raus, dass sich die Influencer-Zwillinge Mimi und Maja bloß einen makabren Scherz erlaubt haben. Konzernchef Schmitz-Wessel (Thomas Heinze) ist trotzdem stinksauer und macht der für die Markteinführung von Bellacara verantwortlichen Projektleiterin Sabine Krüger (Nina Kronjäger) klar, dass sie ihre Berufung in den Vorstand vergessen kann. Die Frau gibt ihren Frust umgehend in Form einer Ohrfeige an Gellhaus weiter; und jetzt blendet der Film acht Monate zurück, um die ganze Vorgeschichte zu erzählen.
Der Einstieg ist gelungen und weckt mit Erfolg große Neugier. Die Spannung sackt jedoch erst mal in den Keller, denn Bellacara spielt zunächst überhaupt keine Rolle mehr. Stattdessen mutiert der Film zum Ehe- und Beziehungsdrama: Gellhaus hat ein Verhältnis mit seiner Chefin und verlässt seine Frau; Krüger betrachtet ihn aber bloß als Zeitvertreib. Die Affäre hat natürlich Folgen für den beruflichen Umgang miteinander; die personelle Konstellation ist also nicht uninteressant. Der Film verschwendet jedoch viel zu viel Zeit mit dieser Ebene und erweckt den Eindruck, das Autorenpaar, die Regisseurin (Isa Prahl) oder der Sender (NDR) hätten das Risiko gescheut, die Handlung allein auf den medizinischen Skandal zu konzentrieren. Die Rahmenhandlung wirkt wie ein Tribut ans Publikum, dem offenbar unterstellt wird, es interessiere sich für diesen Stoff nur, wenn es emotionale Anknüpfungspunkte gibt.
Oft werden solche Geschichten aus Sicht eines Opfers erzählt. So ist das Ehepaar Zahn zum Beispiel bei "Unter der Haut" (2015) vorgegangen, ein Drama über einen Pharmaskandal, als sich Bluter durch ein verseuchtes Medikament mit Aids infiziert hatten. Weil es diese Ebene diesmal nicht gibt, wollten die Verantwortlichen die Emotionen womöglich auf andere Weise wecken. Vielleicht haben die Nebenschauplätze auch mit der Gestaltung der Hauptfigur zu tun. Stephan Kampwirth kann gerade die Brüche seiner Charaktere ganz ausgezeichnet vermitteln; klassische Helden kommen in seiner Filmografie dagegen eher selten vor. Deshalb ist er eine vorzügliche Besetzung für diese Rolle, denn Gellhaus wird trotz seiner Skrupel nicht zum Kämpfer. Vielleicht ist das ein weiterer Grund für die Ausführlichkeit der Beziehungseskapaden: Nun kann sich der Mann wenigstens in dieser Hinsicht profilieren.
Ungleich fesselnder sind jedoch die entlarvenden Gespräche über die Einführung von Bellacara und die entsprechende Marketingkampagne. Die Pille soll ausdrücklich nicht als Medikament, sondern als Lifestyle-Produkt vermarktet werden ("Die Pille mit dem Gute-Laune-Bonus"), Kernzielgruppe sind Mädchen und junge Frauen zwischen elf und zwanzig; daher die beiden Influencerinnen, deren Darstellerinnen gruselig gut sind. Das wiederum ist kein Wunder, denn Lea und Lisa Mantler spielen sich quasi selbst: Die beiden haben bei Instragram über 15 Millionen Fans.
Eher schlicht, aber dennoch wirkungsvoll ist dagegen das visuelle Konzept (Bildgestaltung: Tobias von dem Borne): Das Konzerngebäude ist ein abweisender Moloch, über den düster Wolken ziehen (als "Double" diente die Verwaltungszentrale der Norddeutschen Landesbank in Hannover). Die Innenaufnahmen sind grundsätzlich in kühlem Blaugrau gehalten, die Entscheider sind überwiegend dunkel gekleidet. Damit es auch garantiert keinen Zweifel am Charakter von Sabine Krüger gibt, muss die Frau ständig Anglizismen in ihre Dialoge einflechten, was reichlich unglaubwürdig klingt, weil deutlich zu hören ist, dass Nina Kronjäger solche Redewendungen im Alltag nicht benützt. Der Sprachgebrauch ist der durchschaubare Versuch, Distanz zu der Figur aufzubauen. Dabei tut sie das zur Genüge selbst, denn Krüger ist bereit, über Leichen zu gehen, was angesichts der drastisch erhöhten Thrombose-Gefahr durchaus wörtlich zu verstehen ist.