Tunis (epd). In Tunesien waren am Sonntag rund sieben Millionen Bürgerinnen und Bürger zu Parlamentswahlen aufgerufen. Dabei zeichneten sich keine klaren Mehrheiten ab. Offizielle Umfragen waren im Wahlkampf verboten. Es wird aber erwartet, dass die etablierten Parteien wie die religiöse Ennahda und die säkulare Nidaa Tounes mit teils herben Verlusten rechnen müssen. Unabhängige Kandidaten sehen sich dagegen im Aufwind. Gewählt wurden 217 Abgeordnete.
Nach der tunesischen Verfassung von 2014 bestimmt das Parlament den Premierminister, der die meisten Regierungsaufgaben wahrnimmt. Der Präsident wiederum gibt die Leitlinien der Außen- und Verteidigungspolitik vor. Der neue Staatschef wird am 13. Oktober gewählt. In der Stichwahl treten dann zwei unabhängige Kandidaten, der Jura-Dozent Kaïs Saïed und der Medienmogul Nabil Karoui, gegeneinander an. Karoui sitzt wegen mutmaßlicher Steuerhinterziehung in Untersuchungshaft, kann seine Kandidatur aber aufrechterhalten.
Tunesien ist das einzige Land, das durch den "Arabischen Frühling" eine demokratische Entwicklung genommen hat. Diktator Zine El Abidine Ben war Mitte Januar 2011 nach anhaltenden Massenprotesten außer Landes geflohen. Er starb am 19. September im Exil in Saudi-Arabien.
Die demokratischen Reformen gingen in Tunesien nicht mit einem dauerhaften Wirtschaftsaufschwung einher. Die elf Millionen Menschen leiden unter einer Wirtschaftskrise mit hoher Inflation. Unter jungen Leuten zwischen 15 und 24 Jahren ist jeder dritte arbeitslos. 99 Prozent der Tunesier sind Muslime. Laut Verfassung ist der Islam die Religion des Landes und der Staat ihr Hüter. Zugleich garantiert die Verfassung aber die Gewissens- und Glaubensfreiheit.