Eigentlich ist „37 Grad“ eine tolle Sache. Woche für Woche widmet sich das ZDF mit der Reihe nun schon seit 25 Jahren all Jenen, die mühselig und beladen sind. Die Filme erzählen Geschichten „mitten aus der Gesellschaft“ und geben „Einblicke in Lebenswelten und Seelenzustände, Schicksalsschläge und Glücksmomente“, wie es im Jubiläumspresseheft zutreffend heißt. Das Spektrum ist grenzenlos, weil es keineswegs nur um Menschen mit Behinderungen, unheilbaren Krankheiten oder sonstigen Gebrechen geht; manchmal greift die Reihe auch ganz aktuelle Themen auf, zuletzt unter anderem das Aussterben der Landärzte. Dieser Film war auch eines der wenigen Beispiele, in denen es nicht bloß um Einzelfälle ging.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Beiträge folgen diversen Vorgaben, die offenbar in Stein gemeißelt sind. Es müssen stets drei Menschen sein, die ein vergleichbares Schicksal teilen. Einzelfallbeispiele wie Maike Conways vorbildliche Langzeitdokumentation über Corinne, ein Mädchen, das mit dem HI-Virus auf die Welt gekommen ist, sind seltene Ausnahmen. Wegen der drei Handlungsstränge entsprechen die Filme mitunter dem Muster von Doku-Soaps, weil der Kommentar versucht, eine Art Gleichzeitigkeit zu suggerieren. Die akustische Ebene ist ein weiteres Manko der Reihe: Die Filme sind viel zu oft von vorn bis hinten zugeredet. Damit ließe sich vermutlich leben, wenn der Text für Erkenntnisgewinn sorgen würde. Tatsächlich üben die Autoren jedoch in gewisser Verrat an ihren Protagonisten: Sie wollen ihnen eine Stimme geben, nehmen sie sie ihnen aber gleich wieder weg, denn im Kommentar geht es ständig um Dinge, die die Leute wunderbar selbst erzählen könnten.
Zum Jubiläum zeigt das ZDF eine dreiteilige Reihe, die unter dem Motto „Was uns bewegt“ steht. Im ersten Film geht es um Menschen, die ihren Lebensabend buchstäblich dort verbringen, wo sich Pferd und Esel gute Nacht sagen („Bauernhof statt Altersheim“); in den weiteren Folgen geht es um protestierende Jugendliche (15. Oktober) und um Konsumverweigerer (22. Oktober, jeweils 22.15 Uhr). Der Auftaktfilm über das Seniorenrefugium im Sauerland stellt einen sehr erstrebenswerten Entwurf für ein selbstbestimmtes Altwerden vor, ist gleichzeitig jedoch typisch für „37 Grad“: Immer wieder wird den Protagonisten das Wort aus dem Mund genommen. Die alten Herrschaften mögen körperlich nicht mehr auf der Höhe sein, aber an geistiger Frische mangelt es ihnen offenkundig nicht; es muss also andere Gründe haben, dass Autorin Sibylle Smolka ihnen dauernd in den Kopf guckt und ihre Hoffnungen und Sorgen beschreibt.
Weil die Bilder nicht für sich stehen dürfen, vergibt der Film zudem eine große Chance: Der alte Erwin braust gern mit seinem Mofa durch die Gegend. Die Aufnahmen erinnern an den Programmkinoklassiker „Kleine Fluchten“ (1979), in dem ein alter Knecht seine Ersparnisse in ein Mofa investiert und damit aus dem Alltag ausbricht. In Smolkas Film würden diese Szenen mit ihrem Hauch von Freiheit und Abenteuer für sich sprechen; trotzdem werden sie erklärt. Dabei schreibt Peter Arens, Leiter der ZDF-Hauptredaktion Geschichte und Wissenschaft, zum Jubiläum: „Wir müssen die Menschen erzählen lassen.“ Ein weiteres Credo halten die Filme allerdings vorbildlich ein: „Wir wollen bei ‚37 Grad’ keine Moralisten sein.“ Den Autorinnen und Autoren ist in der Tat nichts Menschliches fremd, aber eine moralische Bewertung des Gezeigten findet nicht statt.
Zur redaktionellen Vorgabe dürfte auch die Vermittlung von Emotionen gehören. Früher, als Schläge noch allseits akzeptierte Erziehungsmaßnahmen waren, sagten Eltern gern: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Bei „37 Grad“ ist es genau andersrum: Wer fühlen will, muss hören. Die Filmemacher stellen sich ihr Publikum anscheinend recht unmündig vor; anders ist nicht zu erklären, dass im Kommentar regelmäßig auch die Gefühle vorgegeben werden. Wie im Spielfilm liegt unter den Bildern sicherheitshalber eine passende Musik, die die jeweiligen Emotionen vertieft.
All’ das ist schade und auch überflüssig, denn „37 Grad“, mit durchschnittlich rund 2,3 Millionen Zuschauern vermutlich die erfolgreichste Reportagereihe im deutschen Fernsehen, ist ein Sendeplatz, auf dem viel mehr möglich wäre; aber die Chancen werden zu selten genutzt. Die Reihe wird zwar nach wie vor regelmäßig ausgezeichnet, doch die besondere Qualität der Anfangsjahre, als beispielsweise Hartmut Schoen für seinen am 1. November 1994 ausgestrahlten Auftaktfilm „Jenseits der Schattengrenze“ über einen Vietnam-Veteranen prompt den Grimme-Preis bekam, haben die Beiträge schon lange nicht mehr. Das ist nicht zuletzt eine Frage der individuellen Handschrift, die auf diesem Sendeplatz wohl nicht erwünscht ist. ARD und ZDF sind in den letzten zwanzig Jahren immer stärker zum Redakteursfernsehen geworden, die Zeit der Autorenfilme ist bis auf wenige Ausnahmen vorbei; deshalb sind sich die von den Redaktionen „Kirche und Leben“ (katholisch und evangelisch) sowie „Terra X“ verantworteten Beiträge zu „37 Grad“ auch so ähnlich. Von einer „Bereitschaft zum Wagnis“, wie sie Arens für die Anfangsjahre konstatiert, kann jedenfalls keine Rede mehr sein.