Predigt 1
Es ist das Jahr 1984. Ich bin 15 Jahre alt und ein grosser Fan der 'Neuen Deutsche Welle'. Erinnern Sie sich noch an Lieder wie '99 Luftballons', ‘Ich will Spass – ich geb' Gas' und ‘Da-da-da'? Und im Zuge der Neuen Deutschen Welle bringt die Gruppe ‘Paso Doble' einen fröhlichen Ohrwurm heraus, der wochenlang an Nummer 1 der deutschen Hitparaden steht: ‘Die Module spielen verrückt, Mensch, ich bin total verliebt, voll auf Liebe programmiert, mit Gefühl. Schalt mich ein und schalt mich aus, die Gefühle müssen raus, ganz egal, was auch passiert, ich brauch Liebe.' Der Titel des Lieds: Computerliebe. (Und Andrew und Kathy haben die Melodie eben auch gespielt.)
Nun sind Computer im Jahr 1984 noch sehr weit davon entfernt, so etwas wie Gefühle verspüren zu können. Ich erinnere mich daran, dass es an unserer Schule ein Computerlabor und Informatikkurse gibt, aber da sitzen immer nur eine Handvoll von Jungs – oder jungen Männern, und das ist irgendwie eine Klasse für sich, ein Club der Eingeweihten.
Mein damaliger Freund ist einer von ihnen, also betrete ich dieses Computerlabor auch ab und zu – aber an die Computer kriegen mich keine 10 Pferde dran – und die Computerfreaks würden mich auch gar nicht dranlassen, ich könnte ja in meiner Ignoranz und Unfähigkeit irgendetwas Wichtiges löschen. Das ist mir viel zu hoch! Der Computer ist noch einige Jahre davon entfernt, ein bedienungsfreundliches Massenprodukt zu werden. Das also sind Computer im Jahr 1984. Von wegen: Gefühl!
Nun finde ich es aber sehr spannend, dass sich Lieddichter und Science Fiction Autoren schon vor Jahrzehnten immer wieder überlegt haben, wie es wohl wäre, wenn Computer bzw. Computerprogramme oder Roboter Gefühle hätten, so wie wir. Und nicht immer werden diese Gefühle als niedlich oder positiv beschrieben – wer ‘2001 – Odyssee im Weltraum' gesehen hat und mit dem Supercomputer HAL 2000 bekannt ist, weiß, dass das auch nach hinten losgehen kann.
Warum haben Menschen Phantasien darüber, dass Maschinen und Programme irgendwie wie wir sind? Vielleicht liegt das ja daran, dass wir Wesen sind, die sich nach Beziehungen sehnen; wir sehnen uns danach, uns irgendwie im Gegenüber wiederzuerkennen, sei es Mensch, Gott, unserem Haustier oder auch Maschine. Wir sehnen uns nach einem ‘Du'.
Es ist das Jahr 2019. Computer sind überall und machen Dinge, von denen man 1984 nur träumen konnte. Mein Smart Phone allein hat das Vielfache der Kapazität der Computer der 80er Jahre. Es gibt zwar noch keine ‘Künstlichen Gefühle', doch gibt es ‘Künstliche Intelligenz': Computerprogramme, Algorithmen, die Muster und Verhaltensweisen erkennen. Dies hat sich vor allem in den vergangenen 10 Jahren unwahrscheinlich entwickelt.
Künstliche Intelligenz hat durchaus positive Seiten. Sie macht unser Leben bequemer. Sie hat die Kapazität, sich mit Problemen zu beschäftigen, die wir Menschen so nicht allein bewältigen können, wie zum Beispiel dem Klimawandel. Sie hilft heute schon dabei, Krankheiten wie Krebs früher zu erkennen, als es eine Ärztin mit bloßem Auge könnte.
Aber es gibt natürlich, wie eigentlich mit jeder menschlichen Erfindung, auch Schattenseiten. Ich finde es manchmal gruselig, wie gut mich die Künstliche Intelligenz, die in meinem Computer und meinem Smart Phone steckt, zu kennen scheint. Die Vision, die George Orwell in seinem Roman ‘1984' hatte, nämlich dass ‘Big Brother' irgendwie alles sieht, ist heute schon zur Realität geworden, wenn auch auf eine Art und Weise, die sich die meisten gerne gefallen lassen – gerade die jüngere Generation. Denn auf der Oberfläche scheint das ja alles nicht bedrohlich zu sein, sondern eher positiv und hilfreich.
Das kommt auch daher, dass wir versuchen, die Technik zu vermenschlichen und in ihr ein ‘Du' zu suchen. Ich rede zum Beispiel regelmäßig mit ‘Siri' – und sie antwortet mir. Andere geben ‘Alexa' Anweisungen – und Alexa tut bereitwillig den Gefallen: “Aber natürlich – nur einen Moment!' Der Computer ‘Watson' hat hier in den USA gegen zwei menschliche Super Champions haushoch in einer Quiz Show gewonnen – und gab seine Antworten mit einer sehr natürlich klingenden Stimme. Mit solch netten Stimmen, die einem eine Beziehung vorgaukeln, wird es gleich einfacher, den Maschinen und den Programmen, die unser Leben beeinflussen, zu vertrauen.
Und bisher wird KI auch hauptsächlich dazu benutzt, uns davon zu überzeugen, dass wir mit unseren Wünschen, Problemen und Weltanschauungen der Mittelpunkt des Universums sind: sie macht willig alles, was man ihr sagt, und stellt einen nicht in Zweifel. Ganz im Gegenteil, da sie unsere Vorlieben erkennt, redet sie uns nach dem Mund und bietet uns das, was wir begehren: an Gütern, an Zerstreuung, an Meinungen und Weltanschauungen. Das ist doch sehr schmeichelhaft; wer würde nicht solch eine Beziehung wollen?
Aber eine wirkliche Beziehung ist das nicht. Künstliche Intelligenz erkennt unsere Verhaltensmuster und unsere Vorlieben, aber schert sich nicht im Geringsten darum, wie es uns eigentlich geht. Künstliche Intelligenz, zumindest bisher, hat kein Gewissen und ist gnadenlos. Und was mit unseren Daten passiert, die Künstliche Intelligenz sammelt, weiß der Kuckuck – oder Google – oder die Regierung – oder Russland – oder China…
Künstliche Intelligenz ist darauf programmiert, uns zu erkennen. Aber so richtig kennen tut uns KI dann doch nicht. Da fehlt wirklich das Gefühl – das Mitgefühl. Und was ist das für eine Beziehung, in der wir nicht ab und zu auch mal in Frage gestellt werden?
Predigt 2
Ich habe darüber geredet, wie KI uns erkennt. In der Bibel hat ‘Erkennen' eine sehr viel tiefere Bedeutung. Wenn wir lesen, dass Adam und Eva sich erkennen, dann heißt das, dass sie miteinander intim werden. Auch, wenn es nicht um Sex geht, hat menschliches Erkennen in der Bibel immer etwas mit Intimität zu tun. Man kommt sich nahe. Man ist aneinander wahrlich interessiert. Es kümmert einen, wie es dem anderen geht – man hat Mit-Gefühl. Und wir haben Beziehungen zueinander, in denen es ein Nehmen und ein Geben gibt.
Und Gott erkennt die Menschen in der Bibel genau so: ganz intim. Trotz aller Probleme mit dieser sturen Menschheit sucht Gott doch immer wieder das ‘Du' im Menschen, Gott erkennt sich irgendwie in der Menschheit wieder. Gott hat Mitgefühl und Verständnis – bis zu dem Punkt, dass Gott selbst Mensch wird und sich für die erkannte und geliebte Menschheit hingibt.
Auch im Psalm, dessen Worte wir heute gebetet haben und über den wir reflektiert haben, geht es um dieses Erkennen. ‘Herr, du erforschest mich und kennst mich. Denn du hast mich gebildet im Mutterleibe.' Und im heutigen Evangelium ist Nathanael ganz baff darüber, dass Jesus ihn kennt, obwohl sie sich noch nie begegnet sind.
Das könnte natürlich dahin verstanden werden, dass Jesus Christus, dass Gott irgendwie ‘Big Brother' ist, der uns streng überwacht, wie ein Programm, das permanent in unsere Privatsphäre eindringt – nichts bleibt vor Gott verborgen. Doch dürfen wir nicht vergessen, dass Gott uns im biblischen Sinne kennt und erkennt – mit Gefühl. Mit Mit - gefühl. Mit einer Liebe und Zärtlichkeit, die wir eigentlich nicht verdient haben und die über unser Begreifen hinaussteigt. ‘Diese Erkenntnis ist zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen', wie der Psalm es ausdrückt.
Gott ist unser wahres Gegenüber. Jemand, den es kümmert, wie es uns geht. Jemand, der bereit ist, uns zu vergeben, obwohl er weiß, wie es tief drinnen in uns aussieht – mit unseren recht dunklen Gedanken, Wünschen und Begierden, die uns manchmal selbst erschrecken. Gott kennt uns in- und auswendig. Doch nutzt Gott das nicht gnadenlos aus, um uns zu verdammen, ganz im Gegenteil: Gott streckt die Hand aus und bietet uns Gnade an.
Was Gott und Künstliche Intelligenz, wie wir sie bisher nutzen, unterscheidet ist, dass Gott uns trotz aller Liebe und Gnade nicht nach dem Mund redet und uns in allem bestätigt. Gnade bedeutet eben nicht, dass Gott all unsere Fehler einfach so hinnimmt, so nach dem Motto, ‘ist schon in Ordnung'. Das wäre ‘billige Gnade', wie Dietrich Bonhoeffer sagt. In der Liebe Gottes erkennen wir uns selbst. Im gekreuzigten Christus erkennen wir unsere Schuld. Gottes Gnade stellt uns in Frage, sie fordert uns heraus, unsere Haltungen und Weltanschauungen zu prüfen und unser zerstörerisches Verhalten zu ändern. Sie gebietet uns, auch unsere Mitmenschen und ihre Bedürfnisse zu sehen. Beziehungen zu wagen. Einander zu achten und das Gespräch zu suchen. Einander zu erkennnen. Gemeinsam zu wachsen und dem Reich Gottes entgegenzugehen.
Und das weiß auch der, der den 139. Psalm betet. Da heißt es nicht: ‘Ist ja toll, Gott, dass du mich so gut kennst und liebst. Denn dann kann ich ja so weitermachen wie bisher.' Nein, dort heißt es:
Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.
Nun gibt es Experten, die sagen, dass Künstliche Intelligenz auch dieses Potential hat: uns offen und ehrlich zu sagen, was mit uns los ist, und uns dazu zu bewegen, ein gesünderes, besseres, und vielleicht auch sozialeres Leben zu führen. Dass KI das Potential hat, ehrlicher mit uns zu sein, als wir es sind oder sein wollen. Dass sie das Potential hat, zum Wohl aller Menschheit und der gesamten Kreatur Gottes genutzt zu werden. Und das mag so sein.
Doch kann sie das Zwischenmenschliche und unsere Beziehung zu Gott nicht ersetzen. Wir brauchen Gefühl. Wir brauchen Mit-Gefühl. Wir brauchen eine Erkenntnis, die weit über die Datenerfassung hinausgeht. Wir brauchen Gnade. Wir brauchen Erlösung. Und das kann uns KI, trotz aller Verheißungen für die Zukunft, nicht bieten.
Künstliche Intelligenz ist ein Teil unserer Realität, und wird es auch mehr und mehr werden. Es liegt an uns, sie so zu nutzen, dass aller Kreatur damit geholfen wird – und der großen Versuchung zu widerstehen, in ihr das ‘Du' zu suchen, das uns und alle Welt erlösen wird.
Amen