Morgens, 10 Uhr: An der Bremer Gerhard-Rohlfs-Oberschule ist große Pause. Die Mädchen und Jungen dürfen in dieser Zeit auch den Park der benachbarten Vegesacker Stadtkirche benutzen. Wenn die Schüler wieder in ihre Klassen verschwinden, lernen gleich nebenan auch Erwachsene. Mathe, Deutsch, Englisch oder Naturwissenschaften stehen nicht auf dem Plan. Die Erwachsenen befassen sich mit dem Christentum. „Taufunterricht“ nennt sich das Ganze. An dessen Ende möchten sich die Menschen taufen lassen.
Würden sie dieses in ihrer Heimat Iran tun, müssten sie ins Gefängnis. Sie sind nicht nur aus ihrem Land geflohen, sondern haben schon vorher der Staatsreligion Islam den Rücken gekehrt. Den „Taufunterricht“ erteilt wie jede Woche Pastor Günther Oborski. Auf seinem Tabletcomputer ist eine Darstellung des schlafenden Josef zu sehen. „Das Thema sind Träume in der Bibel“, sagt der Pastor.
Er ist beim evangelisch-lutherischen Missionswerk Niedersachsen angestellt. Offiziell nennt sich Oborski „Beauftragter für die Seelsorge von Christen aus dem iranischen Kulturkreis“. In Kurzform: Iranerseelsorger. Diese Funktion bekleidet der Pastor in der Hauptsache für die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers sowie als Projekt noch bis Ende des Jahres für die Bremische Evangelische Kirche (BEK). Für die Menschen ist es ein Glücksfall: Oborski kann sie in ihrer Muttersprache Farsi unterrichten, die er selbst fließend spricht.
Der Geistliche ist nicht der erste Iranerseelsorger. „Ich bin der dritte in dieser Reihe“, sagt Orborski. Die Iranerseelsorge entstand nach der Islamischen Revolution 1979. Sie fußt auf drei Säulen: dem Feiern des Gottesdienstes, der Vorbereitung auf die Taufe und der Seelsorge. „Sie reicht von der Beratung in persönlichen Nöten über den Austausch zu Glaubensfragen, die Begleitung in Krisen, wie sie oft durch die Unterbringung in Asylunterkünften bestehen, bis hin zum persönlichen Gebet und Segen“, heißt es dazu auf der Internetseite.
Die Geschehnisse des Landes zwischen Euphrat und Tigris und die Schicksale der Menschen hat Oborski im Verlauf seines Zivildienstes in der Bremer Epiphanias-Gemeinde mit seinem Leben verknüpft. Über den Zivildienst sei er zur Theologie gekommen. Während des Studiums habe er „Interesse an den Iranern gewonnen“, blickt Oborski zurück. Und weil sich das Land und die Kultur einem Menschen in der Regel über die Sprache viel besser erschließen, lernte Oborski während seines Studiums Farsi.
Sechs Monate Arbeit in einem Flüchtlingslager gehörten dazu und auch während seines Vikariats in der Epiphanias-Gemeinde beschäftigte er sich mit dem Iran. Bis heute prägen das Land und seine Menschen das Leben des Pastors und seiner Familie. „Meine Töchter haben von Kindesbeinen an mit und unter Iranern gelebt“, sagt Oborski mit einem verschmitzten Lächeln.
Heute, so scheint es, sind die Kenntnisse von Sprache, Kultur und Menschen gefragter denn je. Denn nach der ersten großen Migrationswelle aus dem Iran 1979/1980 sind mit der Flüchtlingswelle 2015/2016 wieder viele Menschen von dort nach Europa und dann nach Deutschland gekommen. Doch es gibt Unterschiede, wie Oborski herausstellt: Während sich die neuen Mitbürger vor 40 Jahren eher in den großen Städten ansiedelten, hat im 21. Jahrhundert „jedes Dorf etwas von der Welle abbekommen“. Damals wie heute beziehungsweise 2015/2016 suchten die Menschen die Landeskirchen auf.
Und es gibt einen weiteren markanten Unterschied zwischen beiden Flüchtlingswellen, den der Seelsorger so beschreibt: „Damals waren die Kenntnisse über den christlichen Glauben rudimentär. Jetzt kommen die Leute mit mehr Wissen.“ In diesem Zusammenhang erklärt Oborski, dass es bei seiner Arbeit nicht ums Missionieren, sondern dass es um die Seelsorge gehe – die Iranerseelsorge. „Wir kümmern uns um Christen, die nicht getauft sind“, sagt Oborski. Diesen Standpunkt vertritt er auch dann, wenn es den ausländerrechtlichen Status der Menschen betrifft, gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF: „Es sind Menschen, die Christen sind.“ Sie kommen heute nicht nur aus dem Iran, sondern auch aus Afghanistan.
Der Iranerseelsorger hat festgestellt, dass sie nicht pauschal wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Der institutionalisierte Umgang mit religiösen Minderheiten in islamischen Ländern sei unterschiedlich. Er sei aber ein völlig anderer als etwa in Deutschland. „Religion ist Teil des öffentlichen Lebens“, sagt Oborski. Ohne Religion zu leben ist für viele Iraner unvorstellbar.