Unter dem klassischen Messie-Syndrom - die Bezeichnung für die Ordnungsstörung ist abgeleitet vom englisch "Mess", Durcheinander - leiden jedoch anscheinend vor allem die beiden Frauen: Sie können einfach nichts wegwerfen. Bei der achtzigjährigen Marie, deren Wohnung derart vollgestopft ist mit Büchern, Zeitungen und Kleidungsstücken, dass die verschiedenen Stapel mittlerweile ein kompliziertes Labyrinth bilden, lässt sich der zwanghafte Sammeltrieb immerhin biografisch erklären: Kriegskinder sind mit der Maxime aufgewachsen, dass man alles noch mal brauchen kann.
Eleonore steht dagegen mitten im Leben, hat einen 16jährigen Sohn und ist Perfektionistin. Das klingt angesichts der Unordnung paradox, hat jedoch Methode: Wenn sie etwas anfängt, dann will sie es auch zu Ende bringen; und wenn das nicht geht, fängt sie gar nicht erst an. Sie kann sich beispielsweise vom Spielzeug ihres Sohnes nicht trennen, weil sie es mit "guten Erinnerungen" verbindet: an die Zeit, als die Familie noch vollständig und die Welt noch in Ordnung war. Dritter im Bunde ist Peter, ein vielbeschäftigter Single um die fünfzig, der nach der Arbeit schlicht zu müde ist, um aufzuräumen, weshalb sich im Lauf der Zeit in seiner Wohnung immer mehr Müll angesammelt hat. Als Installateur bekommt er regelmäßig Einblicke in die Lebensumstände anderer Menschen und nimmt amüsiert zur Kenntnis, wenn die sich entschuldigen, weil ein paar Sachen rumliegen.
"Zuhause im Chaos" hat Hoyer ihre Reportage genannt, aber zumindest Eleonore und Peter fühlen sich in ihrem Chaos keineswegs heimisch. Den meisten Messies ist eine gewisse Einsamkeit gemeinsam: weil sie es verständlicherweise nach Möglichkeit vermeiden, jemanden in ihre Wohnung zu lassen; alle drei haben sich deshalb um professionelle Hilfe bemüht. Eleonore sucht regelmäßig eine Therapeutin auf, Marie hat einmal in der Woche Besuch von einem Sozialarbeiter, der ihr hilft, ein bisschen Ordnung ins Chaos zu bringen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die große Qualität von Hoyers Film liegt in dem Respekt, den sie ihren Protagonisten entgegenbringt. Natürlich schaut sich die Kamera interessiert in den Wohnungen um, aber die Reportage wirkt nie voyeuristisch; das Trio wird weder vorgeführt noch bemitleidet. Gerade Marie kann außerdem sehr nachvollziehbar begründen, warum sie beispielsweise die Manschettenknöpfe ihres Großvaters nicht verschenken möchte. Hoyer hat es zudem unterlassen, in all’ dem Plunder nach Dingen Ausschau zu halten, die für Fremde nichts weiter als Müll sind. Wie in allen Beiträgen der Reihe ist es auch diesmal beeindruckend, mit welch’ große Bereitschaft die Betroffenen der Autorin Zugang zur Wohnung und damit auch zu ihrem Innenleben gewährt haben. Gerade Marie und Peter erwähnen bei der Suche nach Ursachen einen gewissen Mangel an körperlicher Zuneigung in Kindheitstagen und einen Mangel an Geborgenheit.
Andererseits ist gerade die Erklärungsebene wie bei vielen "37 Grad"-Beiträgen ein großes Manko: weil Hoyer so tut, als könne sie wie eine Romanautorin in die Köpfe des Trios schauen. Ihr Kommentar klingt wie eine schriftliche Reportage: Anstatt Marie, Eleonore und Peter selber reden zu lassen, zitiert sie ihre Aussagen im Konjunktiv. Mag ja sein, dass die drei ihre Ausführungen nicht so prägnant formuliert haben, aber so redet das Leben nun mal. Auch das Expertenwissen - viele Menschen mit Messie-Syndrom fühlten sich in der Kindheit emotional vernachlässigt - stammt nicht etwa von dem Sozialarbeiter oder der Therapeutin, es wird durch den Kommentar mitgeteilt.
Schlüssig ist dagegen der für "37 Grad" gleichfalls typische Versuch, die drei Stränge versöhnlich zu beenden: Eleonore präsentiert ihrer Therapeutin stolz ein makelloses Badezimmer, Peter hat seine Mutter eingeladen und sich auf diese Weise unter Druck gesetzt, endlich aufzuräumen. Marie taugt zwar nicht als Vorbild für Menschen, die unbedingt mal ausmisten sollten, aber sie schließt ihren Frieden mit dem Chaos um sie herum: "Ein bisschen Unordnung ist doch nicht schlimm." Als sie ihre Brille absetzt, wird auch das Bild unscharf; schon sieht ihre Wohnung gar nicht mehr so schlimm aus.