Ein Herrscher irgendwo in Indien verfolgt die Christen in seinem Reich. Als ein Wahrsager ihm prophezeit, ausgerechnet sein Sohn Josaphat werde den bekämpften neuen Glauben annehmen, lässt der König den Thronerben in einem prächtigen Palast isolieren. Dennoch trifft der Spross einen asketischen Einsiedler namens Barlaam, erfährt von ihm über das Christentum und lässt sich taufen. Schließlich bekehrt er sogar den Vater, um dann selbst als Eremit in die Wüste zu ziehen.
Die Legende von Barlaam und Josaphat war eine der beliebtesten Geschichten des europäischen Mittelalters. Wohl niemand ahnte damals, dass sie frappierende Ähnlichkeiten zur Biografie des Religionsstifters Buddha aufweist.
Teilweise Populärer als die Bibel
"Die Story war einfach faszinierend", erklärt der Historiker Mihai Grigore vom Mainzer Leibniz-Institut für Europäische Geschichte den enormen Erfolg der Erzählung von Barlaam und Josaphat. Sie wurde von unzähligen mittelalterlichen Autoren aufgegriffen. Teilweise sei die Legende populärer gewesen als die Bibel. Die Geschichte befasse sich mit den Grundproblemen aller Menschen - ihrer Sterblichkeit und dem Umgang mit Alter, Tod und Leid.
Genau wie der junge Prinz Siddhartha Gautama aus der buddhistischen Überlieferung hat auch Josaphat in seiner abgeschirmten Prunk-Residenz zunächst nichts von den existenziellen Nöten der Menschen mitbekommen. Erst, als es ihm gelingt, den Palast zu verlassen, trifft er auf Kranke und Alte - ebenso wie der junge Buddha bei seinen vier legendären "Ausfahrten" im sechsten Jahrhundert vor Christus.
Schließlich lassen beide unter dem Einfluss eines Wandermönchs ihr bisheriges Leben hinter sich. "Bei Buddha führt die Erkenntnis zur Depersonalisierung des eigenen Willens und zur Auflösung ins Nichts", sagt Grigore, "bei Josaphat dazu, Willen und Begehren auf Christus zu richten."
Im 16. Jahrhundert nahm die katholische Kirche Barlaam und Josaphat in ihr Heiligenverzeichnis auf, das Martyrologium Romanum. Im orthodoxen Osteuropa verbreiteten sich Ikonen der beiden, sogar Kirchen wurden dem heiligen indischen Prinzen geweiht.
Von arabischen Kaufleuten mitgebracht
Einige Gleichnisse aus der Buddha-Legende waren bereits um 1520 in ein Lehrwerk für künftige Fürsten übernommen worden, das in der ganzen christlich-orthodoxen Welt verbreitetet war, wie der Mainzer Ostkirchenkundler in einem aktuellen Fachartikel aufzeigt.
Der Weg der Legende nach Westen sagt viel darüber aus, wie die Kulturen Europas und Asiens schon im ersten Jahrtausend nach Christus miteinander verbunden waren: Arabische Kaufleute brachten die Erzählung von ihren Reisen mit in den Nahen Osten. Dort kursierte sie wohl schon im 8. Jahrhundert auch in den christlichen arabischen Gemeinden, die nach Aufkommen des Islams vielerorts weiterbestanden. Ein georgischer Mönch übersetzte die Legende in seine Muttersprache und passte sie den christlichen Glaubensätzen an.
Auf den Spuren der indischen Thomaschristen
Eine griechische Fassung des georgischen Textes fand schließlich im 10. Jahrhundert Verbreitung im Byzantinischen Reich und später eine lateinische Roman-Fassung im westlichen Teil Europas. Möglicherweise war allerdings auch alles ganz anders: Die orthodoxe Kirche sieht den um 650 geborenen Kirchenvater Johannes von Damaskus als Autoren der Geschichte.
Der Schauplatz des Geschehens blieb in allen Übersetzungen und Text-Versionen stets das ferne Indien - was auch aus historischer Sicht gar nicht so unplausibel ist. Denn auf der indischen Halbinsel bestand seit Alters her eine der weltweit ersten christlichen Gemeinschaften, die der Überlieferung zufolge noch auf den Apostel Thomas zurückgeht. Der Jünger Jesu soll die Menschen an der indischen Südküste missioniert haben, ehe Einheimische ihn auf dem Gebiet der heutigen Metropole Chennai (Madras) töteten. Mehrere Millionen indischer Thomaschristen sehen sich bis heute in der Nachfolge des Märtyrers.
Zwei Dinge hätten das Buch im Mittelalter so populär gemacht, urteilte der Schweizer Philologe Franz Pfeiffer bereits 1843 im Vorwort zu einem Nachdruck der mittelhochdeutschen Barlaam-und-Josaphat-Geschichte. Zum einen sei der "Sieg der christlichen Religion über das Heidenthum" gerade zu Zeiten der Kreuzzüge ein zentrales Thema für die Menschen gewesen. Außerdem habe viele begeistert, dass der junge Königssohn letztlich dem "Glanz der Krone" ein bescheidenes Leben voller Mühsal vorgezogen habe. Über die Parallelen zur Buddha-Geschichte verlor Pfeiffer noch kein Wort.
Dabei lässt sich bereits der Name Josaphat auf den für den Buddhismus bedeutsamen Sanskrit-Begriff "Bodhisattva" ("Erleuchtungswesen") zurückführen. Inzwischen ist dieser Umstand in der Fachwelt allgemein anerkannt. Die orthodoxe Kirche geht mit den Erkenntnissen pragmatisch um. Die Legende von Barlaam und Josaphat gelte allgemein als "fromme Erbauungsgeschichte", sagt der Mainzer Wissenschaftler: "Es bringt keinen Abbruch des orthodoxen Dogmas oder der orthodoxen Spiritualität, wenn man anerkennt, dass sie keine historischen Personen waren."