Früher hatte so gut wie jede Familie eine eigene Hausbibel, die von Generation zu Generation weiter gegeben wurde. Nach Luther und Gutenberg war das aber vor 500 Jahren noch keine Selbstverständlichkeit, kostete doch eine Bibel auch lange Zeit nach Beginn der Reformation ein halbes Vermögen.
Erst Anfang des 18. Jahrhunderts wurde die gedruckte Heilige Schrift erschwinglich, dank der ersten Bibelanstalt, gegründet 1710 durch den im brandenburgischen Lindenberg geborenen Freiherrn Carl Hildebrand von Canstein. Der pietistische Adelige steckte den Großteil seines Vermögens in sein frommes Bildungs- und Bibelwerk. Der 19. August 2019 ist der 300. Todestag von Carl Hildebrand von Canstein, der in der Marienkirche in Berlin beigesetzt ist.
Freiherr Carl Hildebrand von Canstein fiel völlig aus dem Rahmen des Prunk und Protzes seiner barocken Zeit. Der Brandenburger Adelige wollte nicht Teil der höfischen Gesellschaft sein. "Das war überhaupt nicht Cansteins Leben. Er hat später gesagt, er möchte nicht mehr bei seinem Adelstitel genannt werden, sondern er ist nur noch der Herr Canstein. Er war immer stiller Lenker im Hintergrund, stiller Finanzier", sagt Pascal Bullan, langjähriger Mitarbeiter im Berliner Verein "Cansteinschen Bibelanstalt" über Freiherr Carl Hildebrand von Canstein. Der Adelige hatte dabei mit seinem König einen wichtigen Mitstreiter.
Das Leben auf Gott ausgerichtet
"Wir haben ja erst Friedrich I., der noch in diesem exzentrischen Umfeld lebte. Dann kam Friedrich Wilhelm I., sein Sohn, der Soldatenkönig. Der hat die Leute reihenweise vom Hof geschmissen. Diesen König konnte man für die pietistischen Zwecke überzeugen", so Bullan weiter. Denn der Adelige von Canstein, zuvor in Königs Diensten, hatte sich mit den Pietisten August Hermann Francke in Halle und Philipp Spener zusammen getan. 1697 verfasste Canstein eine testamentarische Verfügung zur finanziellen Unterstützung der pietistischen Werke. Davor aber erfuhr der Adelige eine Wandlung. Als von Canstein am Hofe und im Militär Dienst tat, erkrankte er lebensgefährlich an der Roten Ruhr und betete gen Himmel, dass er bei Errettung sein künftiges Leben Gott widmen werde. Ähnlich wie es Luther 200 Jahre zuvor im Gewittergrauen von Stotternheim tat.
"Er war so ein kleiner Luther. Beide hatten Anfangs auch Jura studiert und schlugen dann einen ganz anderen Weg ein. Wie Luther hat auch von Canstein gegenüber Gott sein Wort gehalten. Er hat sämtliche Dienste quittiert und hat sein Leben auf Gott ausgerichtet. Er hat schnell Spener und August Hermann Francke kennengelernt, hat sehr viel Geld in den Pietismus investiert. Wichtig war er auch durch seine höfische Vernetzung. Er konnte seine Strippen noch ziehen", sagt Bullan.
Die Bibel für sechs Groschen
Das größte, wofür man ihn heute noch kennt, war die Gründung der Cansteinschen Bibelanstalt 1710. Gutenberg erfand zwar den Buchdruck, der war aber so teuer, dass sich einfache Leute eine Bibel kaum leisten konnten. Erst 200 Jahre später hat von Canstein das geändert. Teures Blei konnte erstmals in ausreichenden Mengen angeschafft werden, so dass es nicht mehr eingeschmolzen werden musste, sondern als "stehender Satz" erhalten blieb. "Dadurch, dass man Schablonen hatte, ohne sie jedes Mal wieder neu zu setzen, konnte man hohe Auflagen zu einem sehr geringen Preis drucken. So war es den Leuten möglich für sechs Groschen eine ganze Bibel zu kaufen, das sind heute etwa drei Euro", weiß Bullan.
Die Verbreitung der Schrift erreichte nach der Reformation ihren zweiten Höhepunkt. Bis zu Cansteins Tod 1719 wurden etwa 180.000 Bibeln gedruckt. Bis 1854 waren es bereits 4,5 Millionen nebst über 2,5 Millionen Neue Testamente. Die Bibelanstalt in Halle verband mit der kostengünstigen Verbreitung der Heiligen Schrift aber auch einen sozialen Anspruch. "Es ist ja nicht nur diese Druckerei gewesen, die Cansteinsche Bibelanstalt. Die Franckeschen Stiftungen waren ein Riesenkomplex aus Armenfürsorge, Waisenhaus, Schule. Es ging Francke und Canstein um Bildung der armen Leute. Hier haben wir so eine Art zweite Reformation. Luther hat es zwar geschafft, die Bibel ins Deutsche zu bringen, aber kaufen konnte sich das zu dem Zeitpunkt noch keiner. Das hatte erst Canstein geschafft", erklärt Bullan, der seine Masterarbeit über den pietistischen Adeligen geschrieben hat.
Die Anstalt wollte nie Gewinne machen. Es ging um caritative Zustiftungen durch Adelige, damit die Luther-Bibel Verbreitung fand. Paradox, gerade die lutherisch-orthodoxe Kirche stand dem pietistischen Eifer skeptisch gegenüber. "Da sind wir wieder in dem Vergleich kleiner Luther. Luther war auch erst mal in der Kirche. Erst hat er versucht, in dem System zu bestehen. Er hat dann gemerkt, dass es nicht funktioniert, weil die Lehre verwaschen ist und jeder das nur zu seinem Selbstzweck benutzt. Ähnliches kann man bei Canstein und den Pietisten sagen. Bei der lutherisch-orthodoxen Kirche haben wir 200 Jahre nach Luther eine Verwaschung der Lehre. Die 'Pietisten' ist ja eine Fremdbeschreibung, selber haben sie sich als die wahren Lutheraner bezeichnet. Sie wollten wieder zurück zu den reinen Lehren Luthers. Wie werden Gottesdienste gehalten, wie personenzentriert ist das ganze, das Priestertum aller Gläubigen. Man hat im Pietismus Hauskreise gebildet, ohne dass das an eine kirchliche Institution geknüpft war", weiß Bullan.
Die Canteinsche Bibelanstalt brachte zudem die Heilige Schrift nicht nur kostengünstig in die deutschen Kleinstaaten der damaligen Zeit, sondern weit nach Übersee, so Bullan: "Die Verbreitung in über 700 Sprachen geht auf die Anfänge bei Francke und Canstein zurück, weil sie sich dafür einsetzten, dass die Bibel über Deutschland hinaus für missionarische Zwecke vertrieben wird."
1938 stellte die Cansteinschen Bibelanstalt allerdings auch auf Grund mittlerweile zahlreicher Konkurrenz ihre Produktion ein. 1951 erfolgte die Wiedergründung in Bielefeld-Bethel, später dann mit Sitz in Dortmund. Mitte der 1970er Jahre dann kam der Zusammenschluss mit der Württembergischen zur Deutschen Bibelgesellschaft in Stuttgart.
300 Jahre nach Cansteins Tod versucht man in Berlin weiterhin an die erste Bibelanstalt weltweit zu erinnern. Mit einem kleinen Bibelkabinett, sagt Pfarrer Sascha Gebauer aus dem Vorstand des Vereins von Cansteinsche Bibelanstalt in Berlin: "Wir haben uns ein bisschen angelehnt mit dem Wort Kabinett an die Zeit des Barocks und sagen, wir haben hier eine Wunderkammer. Wir verstehen uns ganz in der Tradition von Cansteins." Zu sehen und zu bestaunen sind nicht nur alte und neue Bibeldrucke. Man geht auch ganz mit der heutigen Zeit, etwa mit Hilfe des Onlinespiels Minecraft. Kantige Computerspiel-Figuren spielen die biblische Geschichte nach. Das sei ganz im Sinne des pietistischen Freiherrn, meint Pfarrer Sascha Gebauer: "Wir haben hier ungefähr 1.500 Schülerinnen und Schüler im Jahr, die Bibelgeschichten aus Lego basteln oder sich in Minecraft digital und online ihre eigene biblische Welt zusammen bauen. Ich glaube von Canstein wäre sehr begeistert. Er hat gegen die Analphabetisierung gekämpft. Wir kämpfen auch gegen die Analphabetisierung, indem wir versuchen, die religiöse Sprache wieder lernfähig zu machen."