Es ist eng auf der Empore von St. Cosmae in Stade. Die 17-jährige Sonja Karl sitzt am Spieltisch, der sich zwischen das Hauptgehäuse der Orgel und das Rückpositiv an der Emporenbrüstung klemmt. Ihr zur Seite zwei weitere Teilnehmer des Jugend-Orgelforums Stade, die die Noten umblättern und die Registerknöpfe ziehen, die nicht nur neben sondern auch hinter der Spielerin platziert sind. Theo Jellema steht dicht daneben. Der niederländische Orgelprofessor sieht und hört ganz genau hin. "Spiel das langsamer und mach die Pausen länger", ermuntert er die junge Organistin, die gerade verschiedene Klangfarben ausprobiert.
Das Register "Dulcian 16 Fuß" kommt den behäbigen Bässen im Präludium von Dieterich Buxtehude, das Sonja Karl spielt, entgegen. "Denk an einen alten Mann wie mich, der kann nicht mehr so schnell", rät Jellema mit einem Grinsen. "So klingt es auch humoristischer." Buxtehudes Musik passt perfekt zur Huß/Schnitger-Orgel in St. Cosmae. Doch das Instrument aus dem Jahr 1675 hat auch seine Tücken, Pedalabmessungen und Anschlag sind gewöhnungsbedürftig. Jellema ermutigt seine junge Schülerin, die Extreme auszuloten. Bei der Schlussfuge mit ihrem punktierten Rhythmus feuert er sie wieder an: "Sei etwas böser! Vergiss nicht, wie wunderbar theatralisch diese Musik ist. Koste das aus!"
Zum elften Mal lädt das Jugendorgelforum Stade zu Beginn der Ferienzeit 20 junge Organistinnen und Organisten zwischen 12 und 18 Jahren ein, fünf Tage lang an den von ihnen vorbereiteten Stücken zu arbeiten und dabei Erfahrungen zu sammeln, die ihnen in ihren Heimatgemeinden nicht möglich wären. Das liegt zum ersten eben an den Instrumenten: Arp Schnitger, einer der bedeutendsten Orgelbauer der Barockzeit, baute in der alten Hansestadt an der Schwinge seine ersten Instrumente – als Geselle seines Vetters Berendt Huß, dessen Werkstatt er später übernahm und ins nahe Hamburg verlegte. In Stade und dem umgebenden Alten Land gibt es bis heute eine Anzahl von authentischen Schnitger-Orgeln, an denen sich die Jugendlichen erproben und vervollkommnen können. Das aktuelle Arp Schnitger-Jubiläumsjahr bietet dazu noch einmal besonderen Anlass. "Dass diese wertvollen Orgeln Jugendlichen zur Verfügung stehen, ist wohl einmalig", sagt Martin Böcker, künstlerischer Leiter der Orgelakademie Stade, in deren Rahmen das Jugend-Orgelforum stattfindet. "Die Jugendlichen werden von ihren Lehrern zuhause gut vorbereitet. Aber die Stücke an einem historischen Instrument zu spielen, ist nochmal ein Plus."
Intensive Gemeinschaft
Hinzu kommt die Gemeinschaft in der Gruppe. Denn die Schüler lernen nicht nur von den Dozenten alles über historische Fingersätze, Artikulation und Agogik, sondern auch viel voneinander. Unterrichtet wird in Vierergruppen an jeweils wechselnden Instrumenten, so entschärft sich die Vorspielsituation mit der Zeit, jeder kann vom Zuhören und den Ratschlägen der anderen profitieren. "Auch ich hatte als Jugendliche das Bedürfnis, mich mit anderen auszutauschen", sagt die Kirchenmusikerin Annegret Schönbeck, die das Orgelforum 2009 ins Leben gerufen hat und seither jeden Sommer organisiert. Zuvor gab es ein ähnliches Angebot für Studierende, dort gingen die Anmeldezahlen zurück. "Das war der richtige Augenblick, um es umzumünzen", sagt Schönbeck. Die ganz Jungen in den Blick zu nehmen, die eine professionelle Musikausbildung eventuell noch vor sich haben. "Ein sehr spannendes Alter", findet Schönbeck.
Sonja Karl, die schon zum vierten Mal am Forum teilnimmt, schätzt die Gemeinschaft, in diesem Jahr mit jungen Menschen aus ganz Deutschland, Schottland und Österreich. "Die Leute sind besonders hier", erzählt sie. "Ich habe viele Freunde gewonnen." Es gibt zahlreiche "Wiederholungstäter", wer einmal dabei war, kommt gern wieder. "Wir teilen einfach dieselben Interessen", sagt Sonja Karl. Die Tage in Stade sind intensiv. Die Jugendlichen wohnen gemeinsam in der Jugendherberge, essen im Gemeindehaus. An den beiden Barockorgeln der Stader Hauptkirchen vertiefen die jungen Organisten das, was sie im Unterricht gelernt haben, und auch sonst ist die Zeit meist mit Musik gefüllt. "Wir singen, jazzen, improvisieren und tun was uns Spaß macht. Wenn es ginge, würden wir wohl sogar in der Kirche übernachten", verrät Sonja Karl. Neben dem Musizieren an der Orgel steht auch gemeinsames Singen auf dem Programm. Unter der Leitung von Annegret Schönbeck studieren die Jugendlichen Chorsätze ein, mit denen sie die abendlichen Andachten in der Kirche St. Wilhadi gestalten.
Längst mehr als ein Hobby
Auch Theo Jellema, der sonst am Konservatorium in Groningen unterrichtet, ist von der Atmosphäre beim Jugendorgelforum eingenommen. "Wir erleben uns auch privat. Die Jugendlichen fahren mit mir im Auto. Da entsteht ein Familiengefühl, und man musiziert auch schöner." Das sei anders als in seiner eigenen Studienzeit. "Wir hatten viel Respekt vor unseren Professoren, aber da war wenig menschliche Wärme."
Selbst kurz vor dem abschließenden Wandelkonzert, bei dem alle Teilnehmenden jeweils ein Stück vorspielen, ist die Stimmung gelöst, Die Jugendlichen lachen, tauschen Handybilder aus, von Konkurrenz und Anspannung ist wenig zu spüren. Trotzdem ist für die meisten das Orgelspielen längst mehr als ein Hobby. Sie widmen sich ihm auch im Alltag intensiv. "Ich versuche, jeden Tag mindestens eine Stunde zu üben", sagt Sonja Karl. Die 17-Jährige aus dem hessischen Schwalmstadt macht im nächsten Jahr Abitur. Orgel spielt sie seit über sechs Jahren, hat die C-Prüfung abgelegt und begleitet sonntags Gottesdienste in den Kirchen ihrer Heimat. "Außerdem bin ich Konfi-Teamerin, singe in zwei Chören und spiele in einer Bigband mit." Den Grundstein für die Musikbegeisterung haben die Eltern gelegt, die beide Posaunenchöre leiten. Sonja Karl möchte die Kirchenmusik zum Beruf machen, die Aufnahmeprüfung an einer Hochschule hat sie bereits im Blick. Damit ist sie nicht allein. Etwa ein Drittel der Jugendlichen, die am Orgelforum teilnehmen, studiere später auch Musik, überschlägt Annegret Schönbeck.
Faszination Orgel - zum Anfassen
Der 14-jährige Benedikt Zimmer aus Rellingen bei Hamburg gehört zu den Jüngeren im diesjährigen Forum. Auch er will "gerne beruflich mal etwas mit Musik machen". Er spielt seit zweieinhalb Jahren, zum Üben daheim nutzt er auch eine Digitalorgel, die seine Eltern für ihn gekauft haben. Die Faszination für die Orgel, die Wucht und Vielfalt ihrer Klänge, hat aber schon viel früher begonnen. Im Kindergarten ist ihm das Instrument zum ersten Mal begegnet, damals durfte der Sechsjährige bei einer Vorführung die ersten Töne spielen. "Das hat mich mehr und mehr begeistert."
Menschen möglichst früh mit der Orgel in Kontakt zu bringen ist auch das Anliegen von Annegret Schönbeck. Unter dem Motto "Alte Orgeln für junge Menschen" hat sie für die Orgelakademie Stade Ideen ausgearbeitet - eine Methodik für Orgelführungen etwa oder einen "Orgelkoffer", der Pfeifen- und Balgmodelle zum Anfassen enthält und auch in Schulklassen eingesetzt werden kann. Einmal im Jahr gibt es die "Orgelentdeckertage" in der hannoverschen Landeskirche. "Da kommen Tausende", sagt Schönbeck, die mit solchen Formaten in die Breite wirken möchte: "Denn wir brauchen nicht nur gute Spieler, sondern auch Hörer, die diese Musik zu schätzen wissen." Das unterstreicht auch ihr Kollege Martin Böcker. "Die Kirche stellt ihre Kultur selbst in den Schatten", findet er. "Das Verständnis und die Wertschätzung der Kirchenmusik muss wieder wachsen." Auch bei den Theologen, deshalb will er künftig auch Kurse für Pfarrerinnen und Pfarrer anbieten.
Die Projekte aus Stade sind seit Jahren erfolgreich. Da erstaunt es, zu erfahren, dass alle Aktivitäten der Orgelakademie bisher über Sondermittel, Innovationsfonds und Projektstellen finanziert wurden. Auch das Jugend-Orgelforum braucht jedes Jahr neue Sponsoren. Gefördert wird es vom Land Niedersachsen und der hannoverschen Landeskirche. Die 250 Euro Teilnahmegebühr könnten die Kosten nicht tragen. Dass in Stade etwas Besonderes geboten wird, hat sich indes weit über die Grenzen der Landeskirche hinaus bei jungen Organisten herumgesprochen. Einzelne Teilnehmer kommen sogar aus dem europäischen Ausland oder Australien. Es gibt stets weit mehr Anfragen als Plätze. Doch auch zu denjenigen, die nicht zum Zug kommen, halten die Organisatoren Kontakt: "Ich spreche mit allen, denen ich absagen muss", sagt Annegret Schönbeck. Die besondere Zuwendung den jungen Menschen gegenüber zahlt sich aus: "Viele bleiben uns verbunden, auch weit über die Forums-Zeit hinaus", berichtet Schönbeck. "Und es freut mich, dass es bei allen weitergeht mit der Musik."