Von den fünf Produktionen, die das "Zweite" im Rahmen der Reihe "Shooting Stars – Junges Kino im Zweiten" zeigt, ist "Smile" daher die einzige, bei der sich tatsächlich nachvollziehen lässt, warum der Film erst in der Nacht ausgestrahlt wird; um 20.15 Uhr würde das Techno-Drama allzu viele Zuschauer vertreiben. Für die Filmemacher ist der Sendetermin um 23.55 Uhr trotzdem ärgerlich, zumal die Kinoproduktion der Redaktion Das kleine Fernsehspiel überhaupt keine Kinoauswertung hatte.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Regisseur Steffen Köhn erzählt mit seinem szenischen Langfilmdebüt die Geschichte der jungen Mercedes (Mercedes Müller), die bei dem Technofestival "Heimat" mit einem DJ namens Boy (Mehmet Sözer) verabredet ist. Da ihre Mutter (Catherine Flemming) ihr kein Geld leihen will, klaut sie kurzerhand die Kreditkarte und erlebt einen Abend, den sie aus vielerlei Gründen nie vergessen wird. Köhn, der das Drehbuch gemeinsam mit Silke Eggert und Prodromos Antoniadis geschrieben hat, gestaltet die Reise in die Nacht als eine Mischung aus "Alice im Wunderland" und "Orpheus in der Unterwelt", bei der sich irgendwann nicht mehr sagen lässt, ob es sich um Trip oder Traum handelt. Weil Boy bei einer Party auflegt, zu der die normalen Festivalbesucher keinen Zutritt haben, gerät Mercedes an verschiedene Gestalten, die ihre Hilfe anbieten, aber letztlich ausnahmslos eigene Interessen verfolgen. Bella (Hanna Hilsdorf) zum Beispiel, die angeblich die Türsteherin kennt, verbringt den Abend so lange auf Mercedes’ Kosten, bis deren Mutter die Kreditkarte sperrt; und ein düsterer Clown (Christoph Bach) verschleppt sie in die Katakomben, wo sie beinahe Opfer eines tödlichen Scherzes wird. Am Ende gelingt es ihr zwar doch noch, die Party zu besuchen, aber das Wiedersehen mit Boy läuft völlig anders ab als erhofft.
Sehenswert ist "Smile" vor allem wegen der visuellen Kraft von Köhns Umsetzung. Der Film ist ausgesprochen farbenfroh und wirkt enorm aufwändig, zumal es zwischendurch immer wieder elektronisch generierte Ausflüge in die Tiefen des Weltraums gibt; einige Szenen bewirken gar eine ähnliche Verstörung, wie sie Stanley Kubrick einst mit "Uhrwerk Orange" (1971) ausgelöst hat. Besonders gelungen ist der letzte Akt, als Mercedes wie in der griechischen Mythologie mit einem Boot den Styx überqueren muss, um zur Party zu gelangen; im Wasser treiben Leichen, und die Partygäste zeigen ein konstantes grausiges Grinsen, das wie das Zähnefletschen von Zombies wirkt. Regelmäßige Off-Kommentare einer unsichtbaren Beobachterin, die analog zu George Orwells "Big Brother" als "Big Sister" allwissend zu sein scheint, betten die Reise zudem in einen esoterischen Kontext. Die Botschaften wirken allerdings wie Sinnsprüche aus einem Ratgeber für weibliches Selbstbewusstsein: "Wahre Freude ist, das Beste aus dir zu machen" oder auch "Dein Stern leuchtet hell! Du verdienst es, gesehen zu werden!" Bei aller Faszination gibt es außerdem immer wieder Szenen, die schlicht zu lang geraten sind, etwa ein Foto-Shooting, bei dem das Gesicht des Festivals gesucht wird, weshalb die Geschichte zwischendurch regelmäßig an innerer Spannung verliert.
Interessanterweise hat sich Köhn beim Tempo nicht von der Musik beeinflussen lassen. Es gibt keineswegs möglichst viele "cuts per minute", im Gegenteil; die meisten Einstellungen sind sogar erstaunlich lang. Auch die Kameraführung (Mario Krause) ist vergleichsweise ruhig; insofern entspricht "Smile" dann doch wieder den Sehgewohnheiten des ZDF-Publikums. Vergleichsweise brav sind mitunter auch die Übersetzungen der auf Englisch gesprochenen Botschaften: "Get dirty and have fun" heißt im Untertitel "Zieh’ los und hab’ Spaß". Mercedes, die mit staunenden Augen durch diese ihr völlig fremde Welt wandert, ist ohnehin die perfekte Projektionsfigur für Eltern, die schon immer wissen wollten, was ihre Kinder treiben, wenn sie unterwegs sind. Dass Alkohol und Drogen in großen Mengen konsumiert werden, haben sie vermutlich befürchtet. Mercedes Müller, zuletzt unter anderem als Sphinx in dem Krimi "Totengebet" (ZDF 2019) aus der Vernau-Reihe mit Jan Josef Liefers oder als rätselhafte Schwester in einem "Tatort" aus Kiel ("Borowski und das Haus der Geister", 2018) zu sehen, ist seit einigen Jahren eins der interessantesten jungen Gesichter des deutschen (Fernseh-)Films. Auch sie kann jedoch nicht verhindern, dass "Smile" trotz einer Länge von bloß 75 Minuten wie ein zu lang geratener Kurzfilm wirkt.
Interessant ist allerdings der dokumentarische Aspekt. Viele Aufnahmen sind bei einem Musikfestival auf einer Donauinsel bei Budapest entstanden; für deutsche Veranstaltungen dieser Art gab es keine Dreherlaubnis. Ein Teil der Sets ist in alten Fabrikanlagen in der Nähe von Berlin und auf der Pfaueninsel im Wannsee nachgebaut worden. Allerdings erlaubt sich Köhn die eine oder andere künstlerische Freiheit. Die geschilderte Abzockerei entspricht fraglos der Realität, aber dass Mercedes noch mal zur Kasse gebeten wird, als sie das Festival früher verlassen will, ist (hoffentlich) satirische Überzeichnung.