Sie haben schon viele Auszeichnungen und Ehrungen erhalten. Was bedeutet Ihnen der “Preis der Europäischen Kirchenmusik”?
John Rutter: Der Preis ist eine schöne Überraschung für mich. Ich habe über die Jahre sehr viel geistliche Musik geschrieben, habe mir aber nie erträumt, dass sie einmal in der ganzen Welt aufgeführt würde. Natürlich ist diese Auszeichnung in einem Land, das über Jahrhunderte so viele große Komponisten geistlicher Musik hervorgebracht hat wie Deutschland, etwas ganz Besonderes.
Ihre Musik klingt sehr englisch in den Ohren eines Kontinentaleuropäers. Was sind die besonderen Qualitäten der englischen Musikkultur?
Rutter: Einzigartig auf der Welt sind die 50 großen Kathedralen, die es im ganzen Land gibt, mit ihren Knabenchören. Diese Chöre existieren teilweise schon seit mehreren hundert Jahren. Auch die Universitäten in Oxford und Cambridge haben eine lange Chortradition. An jeder dieser Hochschulen gibt es mehr als 20 verschiedene solche “Chapelchoirs” – gemischte und Knabenchöre. Einige von ihnen zählen zu den weltbesten Chören. Das ist natürlich eine Rieseninspiration für mich als Komponisten.
"Singen ist Ausdruck der menschlichen Seele"
Was verbindet Sie mit Deutschland und der protestantischen Kirchenmusik hier?
Rutter: Ich habe mich immer wieder in diese Musik vertieft, und Johann Sebastian Bach wird für mich immer an der Spitze stehen. Vor etwa 25 Jahren wurde ich erstmals nach Deutschland eingeladen, um dort auf Festivals zu dirigieren. Seither komme ich regelmäßig wieder.
Die menschliche Stimme, speziell im chorischen Zusammenklang, spielt in Ihren Werken eine zentrale Rolle. Weshalb ist Singen so bedeutsam?
Rutter: Singen ist Ausdruck der menschlichen Seele. Wenn wir nicht mehr singen, bleibt die Seele im Körper gefangen – was weder uns noch der Gesellschaft guttut. Das Singen im Chor hat einen besonderen Wert, da es Menschen in Harmonie zusammenführt, zu einer Zeit, wo es in der Politik so viele Dissonanzen gibt.
Wie beurteilen Sie den Zustand der Chorkultur in Europa, und was wird die Zukunft bringen?
Rutter: Singen wird niemals aussterben, einfach weil es so viel Freude bereitet! Aber wir müssen sicherstellen, dass es einen zentralen Platz in unseren Lehrplänen behält. Denn es ist wie beim Schwimmen: Wenn man nie die Chance bekommt, es auszuprobieren, wird man nie wissen, ob man es genießt oder nicht. Dass ein zivilisiertes Land seine Chor- und Gesangskultur vergisst, ist für mich undenkbar. Ich glaube, die Chormusik wird sich weiter öffnen, Stile und Traditionen aus allen Teilen der Welt in sich aufnehmen und dadurch bereichert werden.
An welchen Projekten und Kompositionen arbeiten Sie gerade?
Rutter: Oh, da gibt es eine Menge! Ich produziere eine große Tonaufnahme - zehn CDs sollen in den nächsten drei Jahren erscheinen - mit dem Chor des Clare College Cambridge, wo ich selbst früher studiert habe. Ich habe gerade ein großes Buch mit geistlicher Chormusik für meinen Verlag Oxford University Press fertiggestellt, außerdem werde ich häufig zu Diskussionen, Kongressen, Festivals und Benefizveranstaltungen eingeladen, bin Gastdirigent in verschiedenen Ländern und sitze in Jurys bei Wettbewerben. Als Komponist werde ich als nächstes zwei Festival Anthems schreiben - eines für das renommierte Three Choirs Festival, ein weiteres zur 1000-Jahr-Feier der St. Albans Cathedral. Wie Sie sehen, geht meine lebenslange Verbindung mit der geistlichen Musik weiter.