Warum braucht man überhaupt "schwere Sprache"? Kann die EKD, die über sich selbst sagt, dass sie Inklusion will, ihre Publikationen nicht nur in leichter und einfacher Sprache herausgeben?
Birgit Sendler-Koschel: Wir haben tatsächlich überlegt, diese Publikation direkt in einfacher Sprache zu schreiben. Es gab damals riesige Debatten um Schule und Inklusion sowie um die Auflösung von Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Wir brauchten deshalb eine Publikation, die theologisch und auch darüber hinaus entfaltet, was eine Gesellschaft gewinnt, die sich auf Inklusion einlässt.
Die Orientierungshilfe "Es ist normal, verschieden zu sein" wurde 2015 herausgegeben, damit die Position der EKD gegenüber gesellschaftlichen und christlichen Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträgern deutlich wird. Um von diesen als relevant wahrgenommen zu werden, muss an gesellschaftliche und auch wissenschaftliche Diskurse angeknüpft werden. Und manchmal ist es nicht möglich, solche komplexen Gedankengänge in leichter und einfacher Sprache auszudrücken.
"Die ganze Publikation musste noch einmal neu geschrieben werden"
Die EKD-Publikation "Es ist normal, verschieden zu sein" wurde bereits Anfang 2015 veröffentlicht. Erst jetzt erscheint sie auch in einfacher und leichter Sprache. Warum hat das so lange gedauert?
Sendler-Koschel: Bei der Übersetzung in leichte und einfache Sprache musste die ganze Publikation im Grunde noch einmal neu geschrieben werden. Es gab auch eine wesentliche Reduktion von Inhalten. Es ist eben eine Übertragung auf das Niveau leichter Sprache und auch auf das Niveau einfacher Sprache.
In der neuen Publikation steht also weniger drin als in der alten. Was fehlt?
Sendler-Koschel: Es fehlen die Teile, die sich sehr direkt an gesellschaftliche und kirchliche Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger richten. Wir schreiben die EKD-Publikationen immer, indem wir eine bestimmte Zielgruppe im Blick haben. In der neuen Publikation sind jetzt vor allem die Abschnitte über Inklusion drin, von denen wir denken, dass sie für Menschen interessant sind, die sich ihr Wissen über das Leben und die Welt über leichte und einfache Sprache aneignen.
"Wir müssen herausfinden, wo es Ausgrenzungsmechanismen gibt"
Der Untertitel der barrierefreien Publikation lautet "Wir wollen Inklusion". Warum ist es so wichtig, dass Kirche inklusiv ist?
Sendler-Koschel: Die UN-Behindertenrechtskonvention regte auch die Kirche an, theologisch viel intensiver als zuvor über Inklusion nachzudenken. Vom Grundgedanken her ist bei Kirche schon immer der Gedanke leitend gewesen, dass wir miteinander Gemeinschaft in Christus sind. Das gehört zu den Grundbedingungen von Kirche.
Seit der UN-Behindertenrechtskonvention denkt man jetzt also wieder neu darüber nach: Theologisch argumentieren wir zwar mit der Gemeinschaft der Getauften, aber setzen wir als Kirche das auch tatsächlich in die Praxis um? Wir müssen herausfinden, wo es Ausgrenzungsmechanismen gibt, damit auch Menschen, die eine körperliche oder geistige Behinderung haben oder auf andere Art und Weise sozial exkludiert werden und am Rande der Gesellschaft leben, Kirche als Form der Vergemeinschaftung erleben können.
Sie sagen, theologisch ist zwar Kirche grundsätzlich inklusiv gedacht, aber eben nicht in der Praxis. Wo gibt es denn Ausgrenzungsmechanismen in unserer Kirche?
Sendler-Koschel: Häufig wird der Inklusionsbegriff verengt auf die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Für die Umsetzung in Kirche und Gesellschaft finde ich einen weiten Inklusionsbegriff passender: Es geht also um unseren Umgang mit Verschiedenheit insgesamt.
Eine Kirche, die wirklich inklusiv ist, freut sich über jeden Menschen, der ihr irgendwie begegnet, und fragt: Was kann dieser Mensch Besonderes? Und: Wie könnten wir ihn unterstützen?
"Wir dürfen nicht aufhören, uns auf diesen Weg zu begeben"
Dann frage ich anders: Wo funktioniert Inklusion in der Kirche schon?
Sendler-Koschel: Manche Menschen sagen, Inklusion sei nur eine Idealvorstellung, die unerreichbar ist. Da muss man aufpassen. Natürlich gibt es beim Zusammenleben von Menschen, die ganz verschieden sind, auch Probleme. Beispiele dafür, dass Inklusion gelingen kann, sind deshalb ganz wichtig.
Der deutsche Schulpreis ist im letzten Jahr mit seinem ersten und zweiten Hauptpreis jeweils an eine inklusive evangelische Schule gegangen. Das sind ermutigende Beispiele dafür, dass Inklusion wirklich umsetzbar ist: Wir dürfen nicht aufhören, uns auf diesen Weg zu begeben und immer wieder motiviert loslaufen und etwas ausprobieren.
"Eine Kirchengemeinde muss zuerst ihren Sozialraum wahrnehmen"
Fast alle Kirchengemeinde, die sich auf den Weg machen, Inklusion wirklich zu leben und Teilhabe in vielfacher Hinsicht zu ermöglichen, machen die Erfahrung, dass sie dadurch reicher werden. Es sind wundervolle Gaben, die die Menschen einbringen, die wir bisher nur am Rande der Gesellschaft oder gar nicht wahrgenommen haben.
Worauf muss eine Kirchengemeinde achten, um wirklich inklusiv zu sein?
Sendler-Koschel: Kirchengemeinden sind an vielen verschiedenen Orten präsent. Eine Kirchengemeinde, die inklusiv sein möchte, muss zuerst ihren Sozialraum wahrnehmen: Was für Menschen leben hier? Sind wir für sie als eine Kirche für sie wahrnehmbar? Ist es uns wichtig, dass alle Menschen Zugang zu unserer Gemeinde haben können? Denken wir unsere Angebote in Gottesdienst, Gruppen, Diakonie, Jugendwerk, Kindergarten und und Schule wirklich als evangelisches Netzwerk für alle Menschen?
"Und dann geht es konkret um die Ermöglichung von Teilhabe"
Andere Fragen könnten sein: Nutzen wir die Heterogenität unserer eigenen Gemeinde, zum Beispiel die unserer Kindertagesstätte, wirklich aktiv? Und wenn Menschen aus unserem Sozialraum bisher gar nicht teilhaben: Wie können wir sie unterstützen, damit ihre Teilhabe möglich wird?
Es geht also zuerst einmal um Wahrnehmung und dann darum, auf diese zu reagieren: Wen man schon erreicht und welche Ausgrenzungsmechanismen – bewusst oder unbewusst – gibt es?
Sendler-Koschel: Genau. Und dann geht es konkret um die Ermöglichung von Teilhabe. Ein Gottesdienst ist zum Beispiel prinzipiell inklusiver, wenn die Sprache nicht zu schwierig ist. Deshalb war es uns auch wichtig, eine Publikation in einfacher und leichter Sprache herauszugeben: Wir wollten zeigen, dass man theologische Inhalte auch in leichter und einfacher Sprache gut erklären kann.