Wind streift sanft durch die Birken und Kiefern. Noch tragen die meisten der rund 20 Frauen und Männer im Wald bei Gorleben eine leichte Jacke. Sie haben Kartoffelsäcke mit Polsterung auf die Bank gelegt, auf der sie im Halbkreis sitzen. Doch die Sonne scheint schon wärmend durch die Baumkronen. "Im Winter und bei Regen sind wir manchmal sogar noch mehr", sagt Christa Kuhl. "Niemand will die anderen im Stich lassen." Egal bei welchem Wetter, jeden Sonntag kommen Menschen zu der Andacht im Freien zusammen. Darauf sind sie stolz, denn am 7. Juni feiert die Initiative "Gorlebener Gebet" ihr 30-jähriges Bestehen.
Die Gruppe rechnet sich zur Protestbewegung gegen die Atomanlagen, die am Rande des Ortes an den Wald angrenzen. Schon bald, nachdem der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) vor 40 Jahren Gorleben als Atomstandort benannt hatte, formierte sich im Wendland der Widerstand. Viele Initiativen zeichnen sich durch Beharrlichkeit aus - so wie das Gorlebener Gebet.
1985 haben Atomkraftgegner erstmals ein Holzkreuz nach Gorleben getragen. Auseinandersetzungen mit den Behörden und mit Kirchenvertretern begleiteten seinen Weg vom Kraftwerk Krümmel bei Hamburg ins Wendland. 1988 beteiligten sich rund 6.000 Menschen an einem Friedensmarsch vom bayerischen Wackersdorf nach Gorleben. Im Anschluss hielten Pastoren und Umweltgruppen erste Andachten in dem Wald der Grafenfamilie von Bernstorff. 1989 waren sich "51 Entschlossene" einig, zu Füßen der Kreuze wollten sie regelmäßig Gebete halten, heißt es im Rückblick der Initiative. Bis heute, so betont Kuhl, sei noch keines ausgefallen. Brüchig geworden steht das Kreuz von 1988 noch, angelehnt und mit Drähten und Schellen befestigt an einen Baum.
Längst ist das "Gorlebener Gebet" anerkannt, sowohl in der Anti-Atom-Bewegung als auch in der Kirche. Neben Initiativen wie Frauengruppen gestalten Laien und Theologen die Andachten. "Wir bringen zur Sprache, was uns beunruhigt, was das Leben auf unserem schönen Planeten bedroht", sagt an diesem Sonntag der frühere Lüneburger Landessuperintendent Hans-Hermann Jantzen. Aus dem Gebet wachse Kraft für Taten, manchmal im Kleinen wie beim Anlegen einer Bienenweide. "Wir gehen getröstet und gestärkt wieder in unseren Alltag zurück." Zwanglos im Pullover steht der evangelische Ruhestandspastor in der Runde. Hinter ihm fällt der Blick auf das Bergwerk in Gorleben, den einzigen Ort, der bisher in Deutschland auf seine Eignung als Endlager für hochradioaktive Abfälle erkundet wurde.
Zwar wurden im Zuge des Neustarts bei der Endlagersuche die Erkundungsarbeiten 2013 eingestellt. Zuletzt haben die Betreiber die Mauer rund um das Endlagerbergwerk abgerissen, eine vertrauensbildende Maßnahme, die bei den Aktiven im Wald jedoch abprallt. "Die Gefahr ist noch da, an eine offene Endlagersuche glaubt keiner hier", sagt Wilma Sturm. Ihr Mann Berthold ergänzt: "Gorleben ist als Endlager nicht geeignet. Aber es ist noch im Topf. Und hier wurde schon viel investiert, das lässt uns fürchten."
An der Andachtsstelle flattert ein Banner zwischen den Bäumen, ein Geschenk der Bürgerinitiative Umweltschutz (BI) Lüchow-Dannenberg. "Bleibet hier, wachet und betet", steht darauf. "Wir geben nicht auf", unterstreicht die 80-jährige Christa Kuhl, die seit Jahren die Andachten koordiniert. Zwei weitere Kreuze wurden bei "Kreuzwegen für die Schöpfung" nach Gorleben geschleppt. Eines davon ist schon verwittert.
Zum Jubiläum erwartet die Initiative einen prominenten Festredner, den Autor und früheren Fernsehmoderator Franz Alt (80). Gefeiert wird ausnahmsweise an einem Freitag. Denn dann ist "Gorleben-Tag" bei der "Kulturellen Landpartie". Auch das alljährliche Festival, das von Himmelfahrt bis Pfingsten ein Publikumsmagnet ist, hat seine Wurzeln im Gorleben-Widerstand. Und Franz Alt ist ein Unermüdlicher, der wie das "Gorlebener Gebet" für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung wirbt. Ausdrücklich hat er die Initiative schon in einem seiner Bücher gewürdigt: Jesus wäre heute bei Gruppen wie ihnen.