"Du kannst es nicht berühren. Wir können es nicht sehen. Es ist nicht messbar. Dennoch wollen wir es, brauchen es, manchmal ohne unser Wissen. Denn merken tun wir es erst, wenn es verloren ist." Ein wenig verunsichert steht der 17-jährige Philo Hirte vor dem Mikrophon in der Klosterkirche Loccum. Knapp 300 Menschen sehen ihn an und hören ihm aufmerksam zu, wie er von seiner Gefangenschaft, seinem Freiheitsentzug in einer geschlossenen Psychiatrie, erzählt. "Dort, eingesperrt und abgeschottet vom Rest der Welt, vermisste ich die Freiheit. Ich hatte sie verloren – das erste Mal in meinem Leben", fährt er fort und zieht die Zuschauer mit seinen eindrücklichen Schilderungen in seinen Bann.
"Stellt euch vor", fordert er sie auf, "ihr werdet aus eurem Zimmer mitgenommen, kommt in einem Raum, kein Bett, nur eine Matte und ein Fenster, durch das du beobachtet wirst – die ganze Zeit. Sie sehen dich. Du hast keine Wahl. Nicht einmal einen Lichtschalter. Die Tür ist gepolstert, du kannst nichts tun." An den Gesichtern der Zuschauer kann man ablesen, dass sie sich die Situation tatsächlich vorstellen – einige haben sogar die Augen geschlossen. Vielleicht, um den Raum vor ihrem geistigen Auge zu rekonstruieren. Währenddessen fährt Philo Hirte fort, lässt die Menschen an seinen Gedanken und Empfindungen in dieser schweren Zeit teilhaben – ehrlich und ungeschminkt schildert er, wie es ihm in der Psychiatrie ergangen ist. "Deine Welt zieht sich immer weiter zusammen. Freunde verschwinden, Familie verschwindet, Freizeit verschwindet. Du verschwindest. Das einzige, was bleibt, ist ein kleiner Raum mit einem leeren Körper."
Der 17-Jährige berichtet darüber, wie er in dieser Situation an Gott gezweifelt hat: er selbst habe nicht die Kraft besessen, sich aus seiner eigenen Hölle zu befreien, aber Gotte hätte diese Macht doch haben müssen. Je mehr sich Philo Hirte mit der Frage von Gottes An- oder Abwesenheit beschäftigt, desto schneller spricht er, seine Worte überschlagen sich fast und seine Stimme wird atemlos. Mit dem Mantra "Beten und warten" habe er an diesem Ort nichts anfangen können. Stattdessen habe er die Augen aufgemacht und Gott erkannt – nicht in Eingebungen oder Bibelworten, sondern in den Menschen um ihn herum, die ihn zwar nicht aus der Psychiatrie befreiten, ihm aber durch Gespräche ein kleines Stück Normalität, ein bisschen Freiheit schenkten. Philo Hirte ist überzeugt, dass diese Menschen mit Gottes Geist beseelt waren. "Denn Gott war da. Er ist immer da. In jedem von uns", sagt er überzeugt und schließt seine Andacht mit einer Aufforderung: "Wenn jeder von uns nur ein kleines bisschen Freundlichkeit verschenkt, dann verbreitet er Gottes Geist, Gottes Liebe und schenkt die Freiheit, damit sie überall erstrahlen kann."
Mit seiner Andacht hat Philo Hirte den ersten Platz beim Jugendandachtspreis der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers belegt. "Ich kriege jetzt noch Gänsehaut", gesteht Jurymitglied Jochen Arnold, Direktor des Michaelisklosters Hildesheim, dem Evangelischen Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers. Er bewundert Philo Hirte dafür, dass er sich mit seinen zutiefst persönlichen Erfahrungen in die Öffentlichkeit und vor ein so großes Publikum getraut hat.
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Nach der Preisverleihung ist der junge Mann vor allem erleichtert, dass er alles gut über die Bühne gebracht hat. "Vorher war ich aufgeregt und hatte Angst, vor den Leuten zu sprechen, aber es war der richtige Rahmen", sagt er. Manchmal gehe er in die Kirche, eine Zukunft als Theologe könne er sich jedoch nicht vorstellen. "Gott als allmächtiges Wesen ist mir suspekt", gesteht er schulterzuckend, "aber Gott in den Menschen kann ich mir sehr gut vorstellen."
Philo Hirte ist nicht der einzige, der in diesem Gottesdienst für besondere Leistung geehrt wird. Insgesamt gab es 94 Einreichungen für den Jugendandachtspreis – 20 bis 30 mehr als beim vorherigen Mal. Diese Ehrung gehört neben einigen anderen Angeboten wie den T-Days,Segelfreizeiten oder Pilgern auf dem Jakobsweg zum Nachwuchsförderprogram der Landeskirche, das von Mathis Burfien verantwortet wird. "Der Organisationsaufwand einer solchen Veranstaltung ist hoch, aber es lohnt sich", sagt er. Bei der Bewertung der Andachten gab es recht einfach nachvollziehbare Kriterien, wie die der verständlichen, zeitgemäßen Sprache oder die Beschäftigung mit dem Bibeltext, aber darüber hinaus wurde auch die "Andacht" im Gegensatz zur "Ansprache" bewertet. "Der Unterschied bestand für uns darin, dass wir uns bei den wirklichen Andachten zum Beten eingeladen gefühlt haben", erklärt Arnold.
Für ihn seien die Gedanken der Schülerinnen und Schüler theologisch spannend, relevant und erfrischend gewesen. "Sie stellen die wirklichen Fragen des Lebens. Wir Theologen meinen immer zu wissen, was Paulus mit diesem oder jenem sagen wollte. Stattdessen sollten wir von den unvoreingenommenen, lebensnahen Predigten lernen", so Arnold. Er fühlt sich bereichert, beschenkt und inspiriert durch die Andachten der Jugendlichen.
Einen lebensnahen Gottesdienst hat auch die Evangelische Jugend aus Eime organisiert und dafür den zweiten Platz belegt. Die Konfis hatten sich als Motto für ihren ersten Abendmahlsgottesdienst "LeGo- Lebendiger Gott" ausgesucht. Arbeitsgruppen hatten jeden Bereich durchdacht: Auf dem Altar stand ein Kreuz aus Lego, die Zahlen für die Lieder waren aus Lego, es gab Lego-Schlüsselanhänger und auf der Orgel wurde das Titellied aus Lego-Film gespielt. "Außerdem haben wir noch "Danke für diesen guten Morgen" in ein Lego-Lied umgedichtet", erzählt eine der mittlerweile ehemaligen Konfirmandinnen.
Pfarrerin Stephanie Radtke, deren erster Konfirmationsjahrgang das war, ist immer noch begeistert von der Leistung ihrer Schützlinge. "Wir hatten uns vorgenommen, dass ich den gesamten Gottesdienst lang nicht aufstehen muss, um einzugreifen und es hat geklappt", erinnert sie sich. Die Eltern der Konfis hätten sogar vor Rührung geweint. Das lag womöglich auch an der ausgezeichneten Predigt, in der die Jugendlichen Gott und Lego aus Jurysicht fabelhaft zusammengebracht haben. "Die Sache mit Gott ist ein bisschen wie mit Lego", so beginnt die Predigt. "Wir haben Gott irgendwann von unseren Eltern oder anderen Menschen vorgesetzt bekommen wie so eine Kiste mit Lego. Und bei Gott und bei Lego ist es dann unsere Sache, was wir damit machen. Gott und Lego sind sich da ziemlich ähnlich. Du baust eine Welt aus Lego und deine Welt mit Gott."
Im Wechsel treten die Jugendlichen aus Eime nach vorn ans Mikrophon und lassen die Zuschauer an ihren Gedanken teilhaben: "Wie bei Lego ist auch bei der Sache mit Gott eines ganz wichtig: Beides braucht ein wirklich stabiles Fundament." Wie bei einem Teppich verweben die Jugendlichen ihre Kindheitserfahrungen mit Lego mit ihrer Sicht auf Gott. Ihre Worte sind klar und verständlich, nah bei den Erfahrungen der Zuschauer und man merkt, dass es ihre Botschaft ist. Sie sind stolz auf das, was sie zu sagen haben und wollen gehört werden: "Was auch passiert in unserem Leben und welcher Sturm uns auch versucht umzuhauen: Das Fundament der Liebe bleibt! Egal, was andere sagen. Gott liebt uns trotzdem, obwohl wir Macken und Kanten haben."
Für das "Team Eimhörner", wie sich die Jugendlichen selbst nennen, ist der zweite Platz ein toller Erfolg. Um das anzuerkennen und allen die Möglichkeit zu geben, bei der Preisverleihung in Loccum dabei zu sein, hat der Eimer Kirchenvorstand sogar einen Bus gechartert und die Jugendlichen mit ihren Angehörigen und interessierten Gemeindemitgliedern so dorthin gebracht – 45 Menschen insgesamt. Pfarrerin Radtke freut das genauso sehr wie die Tatsache, dass von ihren 15 Konfis zehn bei der Jugendarbeit dabeigeblieben sind. "Es ist schön zu sehen, dass es etwas bringt. Die Jugendlichen gehen häufiger zur Kirche als ich", scherzt sie. In ihrer Freizeit lernt sie mit den mittlerweile 15- und 16-jährigen Jugendlichen gerade die verschiedenen Gottesdienstarten anderer Konfessionen, wie die der Freikirchen, kennen.
Der dritte Platz wurde beim Jugendandachtspreis gleich zwei Mal besetzt: Mit der Predigt von Nele-Marie Hagen und mit der von Merle Mörchen. Während Nele-Marie Hagen in ihrer Predigt nach Gottes Freiheit im Alltag und innerhalb ihrer eigenen Grenzen gesucht hat, wollte Merle Mörchen dem Geist Gottes in der Natur und all seinen Geschöpfen nachspüren. Auch diese komplett verschiedenen Ansätze zum gleichen Bibelvers zeigen die gedankliche Vielfalt, mit der die Jugendlichen das Thema behandelt haben.
Für alle, die an diesem Abend nicht gewinnen konnten, hatte der Musiker und Songwriter Philipp Poisel einen guten Rat: "Ihr müsst euch die Freude bewahren, das zu machen, was euch gefällt – auch angesichts von Rückschlägen." Poisels Worte klingen so ehrlich und gar nicht aufgesetzt, weil er selbst in seinem schon mit Rückschlägen umgehen musste: Er scheiterte zum Beispiel an der Aufnahmeprüfung einer Hochschule in Musik. In seinem Privatleben, so Poisel, spiele das Gebet eine Rolle.
Neben den vier Gewinnern, die mit einem Preisgeld und der Umgestaltung ihres Jugendraumes durch eine Innenarchitektin belohnt wurden, dürfen sich an diesem Abend auch noch über 20 andere Jugendliche über neue Kopfhörer als Preis freuen. Außerdem hat sich die hannoversche Landeskirche, für die dieser Preis auch eine Art von Nachwuchsförderung ist, alle Teilnehmerinnern und Teilnehmer zu einem Coaching-Seminar mit Schreibwerkstatt und Workshops ins Kloster Bursfelde eingeladen. Ein Angebot, für das sich nach Angaben der Landeskirche bereits so viele Jugendliche angemeldet haben, dass es ausgebucht ist.