Zu Gruppen formiert und die Hände zu Fäusten geballt, prallen Glaubenseiferer aufeinander. Wenn sie sich gegenseitig die Parole "Wir sind das Volk Gottes" um die Ohren hauen, verzerrt Wut ihre Gesichter zu hässlichen Fratzen. Das Gebrüll wird immer lauter, droht in Gewalt umzuschlagen. Dann stimmt der Chor Händels Gloria an.
Wie in dieser Szene werden in dem Stück "Messiah für Alle. Händel auf Abwegen" religiöse Anfeindungen und Rechthabereien wiederholt ad absurdum geführt. Mal mit drastischen Bildern wie bei der Kollision von Fanatikern. Mal durch ironisch-entlarvende Kommentare eines Wissenschaftlers. Mal mit sehr berührenden Passagen. So beschwört irgendwann eine Mutter ihre Leidensgenossinnen: "Steht auf und macht dem Wahnsinn ein Ende. Wir haben unsere Kinder nicht unter Schmerzen geboren, damit sie sich später gegenseitig mit Benzin überschütten."
Widmete Georg Friedrich Händel (1685-1759) das Oratorium dem Leben Jesu, erweitern es die Regisseure Maja Wolff und Timo Becker mit interreligiösen Facetten. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Konflikte geht es ihnen darum, "Vorurteile und Berührungsängste abzubauen" und ein Zeichen der Öffnung für kulturelle und religiöse Verschiedenheit zu setzen. Dazu gehört für die beiden auch die atheistische Perspektive. Die nimmt eine scharfsinnige Obdachlose ein, die über allerlei Ungereimtheiten reflektiert, während sie ihren Einkaufswagen über die Bühne schiebt. "Wenn es stimmt, dass Gott in allem ist, wie kann es dann schlechte Menschen geben?", fragt sie und schließt daraus: "Wenn Gott in allem ist, dann ist er auch in mir."
"Messiah für Alle" eben. Genau das führt das Projekt des Kunst- und Kulturvereins Art-Q in Kooperation mit der evangelischen Kirche, der Hochschule für Darstellende Kunst in Offenbach und der Frankfurt University of Applied Sciences auf mitreißend-unterhaltsame und auf nachdenklich machende Weise vor Augen. Dafür sorgt nicht zuletzt die Authentizität der Beteiligten. Das Ensemble ist mit 20 jungen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion besetzt und bringt auch autobiografische Erlebnisse zur Sprache.
Zudem verschaffen der Chor und das Orchester neben Händels Kompositionen musikalischen Traditionen verschiedener Kulturen bis hin zu dem Hardrock-Hit "Highway to Hell" Gehör. Die 60 Sängerinnen und Sänger sowie die überwiegend an der Offenbacher Hochschule studierenden Orchestermitglieder begannen im vergangenen September mit den Proben.
Bei den regelmäßigen Treffen tauschten sie sich intensiv über Religionen aus und entwickelten gemeinsam mit Wolff und Becker die Texte und Szenen. Dass sich jeder einbringen und erzählen konnte, was ihm am Glauben wichtig ist oder warum er an der Existenz eines Gottes zweifelt, fand Jennifer sehr spannend. "Am meisten haben mich die Leute beeindruckt, die einen festen Glauben haben", sagt die 26-Jährige, der selbst seit der schweren Erkrankung ihres Bruders "der Glauben abhandengekommen" ist.
Amar stieß zufällig zu dem Projekt. In einem säkularen Umfeld aufgewachsen, hätten ihn die Gespräche angeregt, sich mit dem Sikhismus auseinanderzusetzen und damit seiner Religion wieder etwas näherzukommen. Am meisten schätzt der 27-jährige Wirtschaftsinformatikstudent aber die Erkenntnis: "Egal ob wir Muslime, Christen, Juden, Buddhisten oder Atheisten sind - wir teilen alle die gleichen Hoffnungen und Ängste."
Dies zu verdeutlichen, betrachtet der Frankfurter Stadtkirchenpfarrer Olaf Lewerenz als die Stärke des neu inszenierten Händel-Oratoriums. "Jeder verlässt hier seine Nische." Als Wolff und Becker mit der Idee zu ihm kamen, sei er sofort begeistert gewesen und habe die Realisierung unterstützt. Zunächst kümmerte sich Lewerenz um die Heiliggeistkirche als Aufführungsort. Sie habe eine bessere Akustik und sei wegen der Bestuhlung flexibler als die Stadtkirche St. Katharinen an der Hauptwache. Schließlich sammelte er Spenden für die Inszenierung und heuerte als Chorsänger an.
"Das Projekt hat alle aufgewirbelt und eine starke Verbindlichkeit entstehen lassen. Wir sind zu einer richtigen Familie geworden", fasst Wolff die Arbeit an dem Musiktheaterstück zusammen. Dessen Intention bekunden die Mitwirkenden zu ihrer Freude auch jenseits der Bühne, denn sie zeigen, dass das Verbindende stärker als das Trennende ist.
Nur ein Muslim, der nicht mit einem Juden auftreten wollte, und ein Christ, der sich empörte, wie mit Händels Werk umgegangen wird, sahen das anders und schieden bald wieder aus. Wenn der kommentierende Wissenschaftler im Laufe des Abends darlegt, wo überall die Geschöpfe in Sachen Menschheitsplagen ihren Schöpfer längst weit in den Schatten stellen, zählt er zwar die Verbohrtheit nicht auf. Sie gehört aber zweifellos auf die Liste.