Die Bühne für das Chormusical "Martin Luther King – Ein Traum verändert die Welt" in der Essener Grugahalle ist nur wenige Quadratmeter groß. Nicht zu vergleichen mit den großen Bühnen in den Musical-Tempeln in Hamburg, Stuttgart oder Berlin. Auch das Bühnenbild besteht nur aus neun auf jeder Seite unterschiedlich bedruckten Würfeln und ein paar anderen Requisiten. Eigentlich alles recht klein, alles nicht wirklich beeindruckend – säßen da nicht hinter Bühne und dem 15-köpfigen Orchester 1.200 in schwarz gekleidete Sängerinnen und Sänger. Der Chor – der eigentliche Star des Musicals.
Aus dem Ruhrgebiet und dem Rheinland, aber auch aus weiter entfernten Städten wie Osnabrück, Hamburg oder Leipzig haben sich Chöre für die Teilnahme an diesem Projekt angemeldet. Und auch viele Einzelsänger, die sonst nirgendwo organisiert singen, haben sich begeistern lassen. Einige von ihnen sind "alte Hasen": Sie haben schon bei vorherigen Projekten der Stiftung Creative Kirche wie "Amazing Grace", "Die Zehn Gebote" oder "Luther – Das Pop-Oratorium" mitgemacht. "Ich singe schon seit meinem 7. Lebensjahr und bin absolut begeistert von diesen Großprojekten", erzählt Angela Hartwig. Zusammen mit ihrer Freundin Carina Pellegrini ist sie extra aus Berlin angereist, um mit dabei zu sein. "Die Musik ist einfach ganz große klasse, die reißt uns richtig mit", so Pellegrini.
Singen macht generations- und konfessionsübergreifend Spaß, wie das Chormusical zeigt: Zwischen 83 und 8 Jahren sind die Teilnehmer und Teilnehmerinnen an diesem Abend, mehr als die Hälfte ist evangelisch, der Rest verteilt sich auf Katholiken, Mitglieder von Freikirchen oder Menschen mit anderer oder gar keiner Religionszugehörigkeit. Durch die bunte Zusammensetzung fühlt sich Ralf Rathmann, Vorstand der Stiftung Creative Kirche, bestätigt: "Bei uns war von Anfang an der Wunsch groß, das Musical ökumenisch auszurichten, weil die Sängerinnen und Sänger an der Basis doch sowieso schon zusammen singen." In der heutigen Zeit sei es schön, wenn man gemeinsam als Christen ein Zeichen setzen könne – unabhängig davon, welcher Kirche man angehöre, so Rathmann.
Dem stimmt auch Manfred Rekowski, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, zu, der in Martin Luther King eine Ikone der Humanität sieht, zu der Christinnen und Christen aller Konfessionen, aber auch Menschen mit anderen Weltanschauungen eine Verbindung finden können. Rekowskis eigene Verbindung zu King liegt – nicht besonders verwunderlich – im Glauben. "Ich bin vor Hoffnung verrückt", sagt der Präses über sich selbst, "und verrückt meine ich nicht nur ein bisschen durch den Wind, sondern verrückt heißt auch, ich find’ mich nicht ab mit dem, wie es ist, sondern sehe, wie die Welt sein könnte und wie sie um Gottes und der Menschen Willen sein soll, dass eben Gerechtigkeit und Frieden herrschen." So wie Martin Luther King.
Die Gruga-Halle in Essen ist an diesem Abend bis auf den letzten Platz gefüllt. Schon seit Wochen sind die Tickets ausverkauft. Für den zweiten Termin, der wegen der vielen motivierten Mitsänger organisiert wurde, sieht es genauso aus. Sicherlich sind unter den 4.500 Besucher an jedem Abend auch viele Freunde oder Verwandte der Sängerinnen und Sänger, doch die Musikmischung begeistert auch jene, die keine Verbindung zu den Chormitgliedern haben. "Gott sei Dank ist es so, dass dieser Retro-Chic in der Musik immer noch gegeben ist. Ich glaube, dass zum Beispiel Stefan Raab die 70er wieder salonfähig gemacht hat", sagt Hanjo Gäbler, einer der beiden Komponisten des Stücks.
Als in der Halle die Lichter gedimmt werden, wird es still. Eine rothaarige Frau in einem weißen Gewand betritt die Bühne und der Chor fängt an zu singen: "We Shall Overcome" schallt es kraftvoll aus den 1.200 Kehlen. Es ist das Protestlied, das in der US-Bürgerrechtsbewegung eine wichtige Rolle gespielt hat. Währenddessen schwingen die Darsteller Schilder, auf denen ein Regenbogen gemalt ist, und zeigen damit gleich zu Beginn, welche Energie dem Musical innewohnt.
Bis zu diesem Moment war es ein langer Weg. Allein von der ersten Idee bis zum ersten Libretto sind zwei Jahre vergangen. Denn das Musical sollte nicht eins unter vielen werden. "Ich will nicht einfach Mary Poppins machen. Ich möchte gerne, dass Leute tatsächlich angerührt werden vom Evangelium", beschreibt Texter Andreas Malessa sein inhaltliches Ziel für das Musical. Außerdem habe er den Unterschied zwischen einer Gutmenschen-Illusion und einer konkreten, christlichen politischen Utopie aufzeigen wollen. Und das sei aktuell nötiger denn je: "Wenn wir in Deutschland Kräfte haben, die die Regierung bitten, sie möge die Bevölkerung wieder nach Religion und Rasse sortieren", so Malessa, "dann wird es höchste Zeit, dass wir Martin Luther Kings Botschaft ernst nehmen: Es ströme das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegenden Bach." Von diesem Bibelwort aus dem Buch des Prophet Amos (5, 24) sei Martin Luther Kings Engagement getragen gewesen.
Zusammen mit den Komponisten Hanjo Gäbler und Christoph Terbuyken habe er dann an der Umsetzung dieser Vorstellungen gefeilt. Freundschaftlich-ehrlich sagten sich die Männer, was sie dachten. "Das kann man nicht vertonen, das ist ein gesungener Zeitungsartikel. Da musst du noch mal dran" sei einmal eine Reaktion auf einen Textvorschlag gewesen, erinnert sich Malessa. "Die Jungs durften sagen: ’Das ist uns zu schleimig’. Und ich sagen durfte: ’Wir sind hier nicht beim Karussell. Das ist mir zu billig’", so Malessa.
Sowohl das musikalische als auch das textliche Endergebnis stößt bei den Sängerinnen und Sängern auf breite Zustimmung. Sie haben sich von der Botschaft des Musicals berühren lassen – jeder auf seine eigene Weise. Petra Schulte aus Rietberg findet zum Beispiel, dass die Liedtexte den Zuhörer dazu anregen, an den Nächsten zu denken und wie man miteinander umgeht. Luise Bode schöpft durch die Worte Hoffnung: "Wenn viele gemeinsam träumen, können wir die Welt verändern." Und auch Yannik Schulz lässt sich nicht nur von der Atmosphäre beeindrucken. "Das ist alles so lange her, aber hier wird es wieder lebendig und zeigt, wie aktuell das alles noch ist", sagt er. Und Komponist Gäbler berichtet von dem Erlebnis einer Teilnehmerin, das ihn tief berührt hat: In einem Berliner Bus habe eine der Chor-Sängerin erlebt, wie ein junger Mann ungefragt gegenüber einer afrikanischen Familie gesagt habe, er stehe nur für Deutsche auf. "Daraufhin hat sie der Familie ihren Platz angeboten, ist zu dem Mann hingegangen und hat ihm gesagt: `Ich bin ja offensichtlich Deutsche, geben Sie mir bitte ihren Platz`", erzählt Gäbler strahlend. Diese kleine Geschichte aus dem Alltag hat ihn so beeindruckt, " weil man darin sieht, dass das aufgegangen ist, was wir hier gelernt haben".
Auch die Darsteller haben sich intensiv auf ihre Rollen vorbereitet. Für Andreas Wolfram, der den King-Kritiker und Bürgerrechtler Malcolm X spielt, sei es besonders wichtig gewesen, die Motivation für Malcolm Xs Handeln im Vergleich zu der von King zu hinterfragen. "Malcolm X und King unterschieden sich nicht in dem, was sie erreichen wollten", ist Wolfram überzeugt, "der Unterschied bestand in dem, woher sie gedanklich kamen: King hatte eine Vision und wollte auf eine gute Sache hinarbeiten, Malcom X wollte von der Brutalität und Ungerechtigkeit, mit der Farbige behandelt wurden, weg." Wolfram sieht Malcolm X nicht als einen Psychopathen an, er habe nur nach der Divise "der Zweck heiligt die Mittel" gehandelt. "Selbst wenn seine Mittel brutal sind, so hat er doch nicht aus Brutalität gehandelt", beschreibt Wolfram den Charakter seiner Figur weiter. Auf der Bühne bringt er den Zuschauern beide Seiten des Malcolm X näher: die des mit Benzin und Feuerzeug spielenden, Baseballschläger-schwingenden kompromisslosen Kämpfers und die des verzweifelten Mannes, der von der Heiligen Geistin Zuspruch braucht.
Dass die Heilige Geistin Malcolm X die Hand reicht und ihm beisteht, obwohl er Dinge getan hat, die sie gewaltfreie Vertreterin Gottes nicht gutheißen kann, ist für Darstellerin Karolin Konert Teil der Faszination dieser Figur und macht sie spannend. "Die Ruhe und diese immense Liebe, die sie in sich trägt, sind etwas ganz besonderes", sagt sie. Zur Vorbereitung auf die Rolle der Heiligen Geistin habe sie viel meditiert und sich intensiv mit Martin Luther Kings Biografie und seinem Glauben beschäftigt. Ein wichtiger Punkt sei dabei gewesen, "zu verstehen, wie er es geschafft hat, in seinem Glauben so gestärkt zu sein, dass er die Gewaltfreiheit so konsequent leben konnte". Dafür bewundere sie ihn.
Das Chormusical lebt aber nicht nur von seiner Musik, sondern auch von seinen witzigen Spielszenen. Zum Beispiel als der Birminghamer Polizeichef Bull Connor (Benjamin Eberling) ausrastet, weil seine Polizisten – statt die knienden und betenden Demonstranten niederzuknüppeln – zurückgewichen sind. Für sein wütendes Geschrei in einer so absurden Situation erntet Eberling lautes Lachen und Szenenapplaus. Dies ist auch eine der Lieblingsszenen von Texter Malessa. "Da brüllt einer einen so an, wie Sie es sonst nur von einem Centurio aus Asterix und Obelix kennen", erzählt er lachend. Grundsätzlich versucht das Musical, die historischen Fakten und Zusammenhänge ansprechend zu verpacken. Kings familiäre Verbindung zur Religion wird beispielsweise durch Malcolm X eingebracht, der die Pastoren in der Familie King aufzählt und dann lakonisch meint: "Armer Martin, immer den lieben Gott am Tisch."
Am Ende ist es jedoch vor allem der Chor, der das Publikum restlos begeistert. Immer wieder werden die verschiedenen Choreographien und die Stimmgewalt gelobt. "Der Chor ist beeindruckend, der bringt eine tolle Stimmung rüber", findet Nicolas Hülsenbeck. Tobias Martin kennt die Projekte der Stiftung Creative Kirche von den Gospelkirchentagen und ist für das Chormusical extra aus Bamberg angereist. Ein Weg, den er nicht bereut hat: "Ich fand die Aufführung ansprechend, nah und überzeugend. Wirklich fantastisch." Aber nicht nur die Musik, auch der Inhalt des Musicals bewegt die Zuschauer. "Es trifft schon einen Nerv, wie viel Ungerechtigkeit damals geherrscht hat", sagt einer der Besucher nachdenklich. "Und wie viel Ungerechtigkeit auch heute noch herrscht – auch hier bei uns in Deutschland." Renate Görler beeindruckt es, wie geschickt und eindrücklich der Bogen in die heutige Zeit geschlagen wird. "Das Musical zeigt uns auf, wo wir gefordert sind", sagt sie.
Texter Andrea Malessa hat einen ganz konkreten Wunsch, was die Zuschauer am Ende des Musicals mit nach Hause nehmen sollen: Zuversicht. "Und zwar eine Zuversicht, die lautet: Hoffnung lohnt sich. Eine konkrete Utopie ist eine Idee, für die es sich zu kämpfen und zu leben lohnt und die sollten wir uns nicht von den vermeintlichen Realisten als Gutmenschen-Illusion ausreden lassen", sagt er. Denn Martin Luther King haben den Menschen "das zähe, hartnäckige Hoffen gelehrt".
An diesem Abend wird jedoch nicht nur von Martin Luther Kings Traum gesungen, es wird auch handfest etwas dafür getan, dass sich die Welt zum Besseren verändert. Kleine gelbe Eimer mit der Aufschrift "Brot für die Welt" wandern durch die Reihen. Jeder kann sich eine CD heraus nehmen, auf der zwei Lieder des Musicals sind. Im Gegenzug kann man eine Spende hineinlegen. Gefördert wird mit den Einnahmen ein Menschenrechtsprojekt in Kenia, das auch von der Aktion "Gospel für eine gerechtere Welt" unterstützt wird. Das Projekt versorgt Menschen mit sauberem Trinkwasser und gibt so vor allem jungen Mädchen die Chance, in die Schule gehen zu können, statt stundenlang kilometerweit zur nächsten Wasserstelle laufen zu müssen.
Die Sängerinnen und Sänger haben Martin Luther Kings Botschaft verinnerlicht und lassen nicht nur Liedtexte, sondern auch Taten sprechen: Sie haben fast 3.000 Euro gespendet. Weitere 13.323,93 Euro kommen an diesem Premieren-Abend vom Publikum dazu, dass sich anscheinend auch hat inspirieren lassen. Insgesamt wurden an beiden Abenden 34.656,08 Euro für das Trinkwasserprojekt in Kenia gesammelt.
Brot für die Welt
Bank für Kirche und Diakonie
IBAN: DE10100610060500500500
BIC: GENODED1KDB
Verwendungszweck: "Gospel – Kenia"