Von Tabus hält Nadia Bolz-Weber nicht viel. Vor allem nicht, wenn sie von der Kirche errichtet werden. Das beweist die populäre Pastorin aus Denver (USA) auch in ihrem neuen Buch "Shameless". Darin fordert sie eine "sexuelle Reformation" der Kirche - gemeint ist eine Enttabuisierung der Sexualität. Und damit fängt Bolz-Weber bei sich selbst an.
In dem Buch spricht sie über ihre Entscheidung für eine Abtreibung. Als junge Frau sei sie nach ihrer Alkoholsucht gerade zwei Jahre "trocken" gewesen und habe keinen richtigen Job gehabt. Die Entscheidung habe sie "eine Zeit lang kaputt gemacht". Doch noch heute sei sie überzeugt, dass die Entscheidung richtig gewesen sei. Bolz-Weber ist in einem christlich-fundamentalistischen Elternhaus aufgewachsen, an dem sie sich stets gerieben hat. Nach viel Alkohol, Sex und religiöser Sinnsuche habe sie als Erwachsene zu ihrem Glauben an Jesus gefunden und zu den Lutheranern. Davon hat die Pastorin schon früher erzählt.
Heute ist Bolz-Weber Mutter zweier Kinder, die Ehe mit einem Pastor ist inzwischen geschieden. In ihrem Buch schildert sie auch eine Situation mit ihrer 18-jährigen Tochter, als diese sie fragt, ob sie bei ihrem festen Freund übernachten dürfe. Es sei schwer, die Sexualität der eigenen Kinder zu akzeptieren. Und doch habe sie ihrer Tochter erlaubt, über Nacht bei ihrem Freund zu bleiben, weil sie ihrer Tochter vertraue.
Gottgewollte Vielfalt - auch in sexueller Hinsicht
"Shameless" habe sie geschrieben, "für alle, die sich jemals wegen ihrer sexuellen Beschaffenheit geschämt haben", sagt Bolz-Weber. Für alle, die ihr Liebesleben verstecken müssten, für alle, die sich vom Christentum entfernt hätten, insgeheim Jesus aber noch immer liebten. Und für alle, die sich einmal gefragt hätten, warum die Kirche "so besessen" sei von Geboten zur Sexualität. Die Bestseller-Autorin und international bekannte Rednerin, die 2017 beim Deutschen Evangelischen Kirchentag auftrat, ist überzeugt, kirchliche Ge- und Verbote zum Thema Sex hätten zahllosen Menschen verletzt und ihnen Scham-Gefühle eingeredet.
Die 1969 gebürtige Pastorin hebt sich deutlich ab von den übrigen Geistlichen in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika, der größten lutherischen Kirche Nordamerikas. Kaum ein Artikel über Bolz-Weber erscheint ohne Hinweis auf ihre bunten Tattoos mit teilweise biblischen Motiven. 2008 gründete sie in den USA die lutherische "House for All Sinners and Saints" (deutsch: "Haus für alle Sünder und Heiligen"). In ihren Predigten legt sie häufig den Fokus auf Vielfalt und Individualität der Menschen. Im Sommer 2018 hat Bolz-Weber ihre Gemeinde im beiderseitigen Einvernehmen verlassen. Sie will schreiben und Vorträge halten, die Botschaft des Evangeliums weiter verbreiten, wie sie sagt.
In "Shameless" kommen auch Gemeindemitglieder zu Wort, die unter der kirchlichen Sexualmoral gelitten haben. Zum Beispiel erzählt ein junges Ehepaar, ihnen habe die Kirche vorgeschrieben, vor der Hochzeit beim Sexuellen "nicht zu weit" zu gehen. "Man hat mir immer erzählt, Gott sei allgegenwärtig und würde sehen, wie ich masturbiere, so dass ich mich schämen müsste", erzählt Ehemann Tim in "Shameless". Nach Ansicht von Bolz-Weber ist es "schlechte Theologie", zu lehren, dass Gott nur mit einem "bestimmten Menschentyp" zufrieden sei. Denn Gott habe die Menschheit in einer "atemberaubenden Vielfalt" erschaffen - auch in sexueller Hinsicht.
Streitpunkt Scham
Man müsse in der Kirche offen über Sex reden, ohne Schuldgefühle und Scham zu verbreiten. "Wenn deine sexuellen Sehnsüchte nicht auf Minderjährige ausgerichtet sind oder Tiere, oder wenn dein sexuelles Verhalten dir selber nicht schadet oder Menschen, die du liebst", müsse man Sehnsüchte nicht unterdrücken. Als Pastorin habe sie festgestellt, dass religiöse Vorschriften zur Kontrolle sexueller Wünsche, emotionales, sexuelles und spirituelles Wachstum behinderten.
In "Shameless" schreibt Bolz-Weber wie gewohnt humorvoll und gleichzeitig provozierend. Manchen Kritikern geht die "Bolz-Weber-Show" offenbar auf die Nerven. Die Pastorin tue so, als seien Scham und Schämen grundsätzlich schlecht, klagte die Sprecherin eines Anti-Pornografieverbandes in der Online-Zeitschrift "Christian Post". In der heutigen Welt, in der oft die Orientierung fehle, brauche man eher mehr als weniger Scham, erklärte sie.