Schon wieder ziemlich rasant rauscht Nikolai Sommer den schneebedeckten Hang herunter, legt sich mit dem Oberkörper mal nach rechts, mal links in die Kurve, so dass der Schnee zu beiden Seiten aufstäubt. Am Ende der Piste angekommen bremst er ab, balanciert den Ski aus, schiebt die Skibrille vom Gesicht und grinst. Ihm sind die Freude und der Spaß anzusehen, die er auf der Skipiste in Bischofswiesen erlebt. Dass er wieder Ski fahren würde, war für Nikolai Sommer klar. Für alle anderen eher nicht. Denn seit einem schweren Trainingsunfall ist er querschnittsgelähmt.
Es ist der 11. Mai 2017. Am Kaunertaler Gletscher in Tirol trainiert der damals 16-Jährige bei einem Lehrgang des Landeskaders auf der Wellenbahn. Auf dem jungen Leistungssportler, der auf das Internat der CJD Christophorusschulen, einer Eliteschule des Wintersports in Berchtesgaden, geht, ruhen große Hoffnungen: Die Hälfte der Saison stand er in seiner Altersklasse auf Platz zwei der Weltrangliste im Super-G, dem Super-Riesenslalom.
An diesem Tag soll "der Kugelblitz", so Nikolais Spitzname, den jungen Sportlern zeigen, wie die Wellen "geschluckt" werden. Doch in einem Sekundenbruchteil verändert sich sein Leben. "Ich habe bei der ersten Welle schon gemerkt, dass ich viel zu schnell bin. Die habe ich aber noch irgendwie geschafft", erinnert Nikolai sich, "bei der zweiten Welle bin ich dann abgehoben und im Gegenhang auf den Rücken geknallt." Direkt nach dem Aufprall ist er fünf Minuten bewusstlos. "Als ich dann wieder zu mir gekommen bin, hatte ich leichte Schmerzen in der Wirbelsäule und ich habe meine Beine nicht mehr gespürt. Da war mir eigentlich schon klar, was passiert ist", erzählt er nüchtern.
Mit einem Rettungshubschrauber wird er nach Innsbruck ins Uni-Klinikum geflogen. Nikolai erinnert sich, wie er währenddessen aus dem Fenster geschaut hat. Eigentlich sei der Hubschrauberflug super gewesen, sagt er heute lakonisch. Dann noch eine Telefonat mit dem Papa, ein "Ich liebe dich". Und dann eine vierstündige Operation. Die Diagnose: Starke Rückenmarksquetschung. Der heftige Aufprall hat Nikolais Lendenwirbel ins Rückenmark gedrückt, es aber nicht komplett durchtrennt. Angesichts der Situation eine "gute" Diagnose. An das Fünkchen Hoffnung, deshalb vielleicht doch irgendwann wieder laufen zu können, will sich Nikolai jedoch nicht klammern. Er akzeptiert, dass er vermutlich nie wieder gehen wird. Er – der schon als kleiner Junge nicht zu bremsen war, der Fußball und Tennis gespielt hat, der Ski gefahren ist – muss sich damit abfinden, dass sein Leben nun anders aussieht.
Dass er aber auf das verzichten soll, was ihm jahrelang so viel Spaß gemacht, das akzeptiert Nikolai nicht. "Wir haben alle Gedanken ans Skifahren, an den Schnee und die Berge ganz weit weggeschoben", erinnert sich Andrea Sommer, Nikolais Mutter. Doch da hat sie die Rechnung ohne ihren Sohn gemacht. "Wir mussten ihm noch im Krankenhaus in Innsbruck versprechen, dass er wieder Skifahren darf." Ein bisschen Verblüffung und Unglaube schwingen immer noch in Andrea Sommers Stimme mit. Nikolai erzählt schmunzelnd, dass er fünf Minuten nach dem Erwachen aus der Narkose schon wieder ans Skifahren gedacht habe. Bereits im Krankenhaus schaut er sich wieder Skifahr-Videos an – was andere vielleicht deprimiert hätte, motiviert Nikolai, an seiner Genesung zu arbeiten.
Sechs Wochen muss er in der Klinik bleiben, wird noch vier weitere Male wegen einer Keiminfektion im Rücken operiert. Am Am Ende sind vier seiner Wirbel verteift. Danach folgt die wochenlange Rehabilitation in Murnau am Staffelsee. Nikolai macht sowohl Physiotherapie als auch Krafttraining und lernt, mit dem Rollstuhl umzugehen. "Die Disziplin, die er als Spitzensportler haben musste, hilft ihm jetzt", berichtet Andrea Sommer. Auch die Erfahrungen aus dem Sport, mit Niederlagen umzugehen, Rückschläge zu verkraften und immer wieder aufzustehen, seien jetzt unheimlich wertvoll. Denn nicht alles klappt in der Reha sofort perfekt. In der ersten Zeit bereiten ihm selbst alltägliche Bewegungen wie das Sitzen Probleme. "Ich bin einfach nach hinten gefallen." Nikolai muss für Vieles, was früher für ihn selbstverständlich war, hart arbeiten. Und er muss lernen, Hilfe anzunehmen. "Das fällt ihm immer noch besonders schwer", sagt seine Mutter, "denn der Niko möchte seine Freiheit behalten".
Den Unfall körperlich zu verarbeiten ist eine Sache, sich seelisch damit abzufinden, nie wieder laufen zu können, eine andere. In der ersten Zeit, so Nikolai, habe er oft in seinen Träumen noch gehen können. "Beim Aufwachen habe ich dann gemerkt, dass ich gelähmt bin", erzählt er nüchtern. Mittlerweile habe sich das geändert. "Ich träume jetzt, dass ich mit dem Rollstuhl unterwegs bin und was mache." Da sind keine Traurigkeit oder keine Sehnsucht in seiner Stimme, sondern Akzeptanz. Der Weg dahin war jedoch alles andere als einfach: Anfangs habe er jeden Tag geweint, habe auf ein Wunder gehofft, erinnert sich Nikolai. Doch irgendwann sei es besser geworden. "Dann heulst du nur noch einmal die Woche. Und dann nur noch einmal im Monat. Und jetzt erinnere ich mich gar nicht mehr, wann ich zuletzt deshalb geweint habe."
Nikolais positive Art und sein Tatendrang helfen Jürgen und Andrea Sommer durch diese schwierige Zeit. "Es war eine Zerreißprobe für unsere Familie", gesteht Andrea Sommer. Die Erinnerung an die schlaflosen Nächte, an die Ungewissheit, die Angst und die sorgenvollen Monate spiegeln sich in ihrer Stimme wieder. Sie und ihr Mann hätten versucht, für Nikolai stark zu sein und sich nichts anmerken zu lassen, doch das sei gar nicht notwendig gewesen. "Denn gerade Nikolai war der, der unsere Familie zusammengehalten hat. Er ist so stark und so positiv mit allem umgegangen", erzählt Nikolais Mutter gerührt. Ihr Niko sei immer noch der alte Niko. Nur jetzt halt im Rollstuhl.
Außergewöhnliche Hilfe und Anteilnahme
Nikolais Unfall stellt die Familie auch vor finanzielle Herausforderungen: Zum Beispiel muss ihr Haus binnen weniger Monate rollstuhlgerecht werden. "Niko hatte quasi schon eine eigene Wohnung bei uns und die musste umgebaut werden. Wir brauchten einen Aufzug und es gab einfach so viel zu bedenken", erinnert sich Andrea Sommer.
Und es passiert, was sich Familie Sommer nicht hätte träumen lassen: Sie erleben eine Welle der Unterstützung und Hilfsbereitschaft. Während Andrea Sommer ihren Job kündigt, um sich um ihrem Sohn kümmern zu können, wird Nikolais Vater, Jürgen Sommer, von seinem Arbeitgeber Max Aicher freigestellt. Die Firma bezahlt auch in Vorleistung die Rechnungen für den Umbau, die Arbeitskollegen spenden und helfen beim Umbau, ein Unternehmen aus der Umgebung sponsert ein neues Badezimmer. "Wir wohnen in einem Dorf, da hilft jeder jedem, aber das war außergewöhnlich", so Andrea Sommer.
Wenige Tage nach dem Unfall ruft auch Nikolais Heimatverein, der TSV Waging/SV Kirchanschöring, eine Spendenaktion ins Leben. Das Geld aus dem "Projekt Nikolai Sommer" soll dem Jugendlichen in seinem "neuen Leben" dabei helfen, mobil zu bleiben. Über 170.000 Euro kommen zusammen. Auch prominente Wintersportler wie das Slalom-Ass Felix Neureuther, der ehemalige Ski-Langläufer Tobias Angerer oder der ehemalige Biathlet Andreas Birnbacher spenden, schicken Genesungswünsche oder besuchen Nikolai in der Reha.
Dort muss Nikolai auch eine Entscheidung für seine Zukunft treffen: Will er neuanfangen oder zurück zu seinen ehemaligen Teamkollegen an der alte Schule? Für den Jugendlichen ist schnell klar, dass er zurück ins CJD-Internat will, "weil’s mit den Leuten Spaß macht". Dass ihm diese Möglichkeit geboten wird, ist nicht selbstverständlich – schließlich ist er plötzlich kein förderungswürdiger Nachwuchssportler mehr, dessen Schulgeld von 1.600 Euro im Monat übernommen wird. Und das in den Berg gebaute, steile Schulgelände und die kleinen Appartements sind nicht barrierefrei. Trotzdem betont der sportliche Leiter der CJD Christophorusschulen, Christian Scholz, dass es nie Zweifel daran gegeben hätte, dass Nikolai Sommer zurückkommen könne. "Wir haben ihm die Entscheidung überlassen."
Mit Nikolais Entscheidung werden die sowieso schon länger geplanten Umbaumaßnahmen für mehr Barrierefreiheit in der Schule und im Internat beschleunigt. Erst etwas provisorisch durch einige Rampen, später durch einen Aufzug, behindertengerechte Toiletten und durch barrierefreie Zimmer im neu gebauten "Haus der Athleten".
Gerade der Kontakt mit anderen, denen es wie Nikolai geht, führt Familie Sommer vor Augen, wie es hätte sein können, wenn Nikolai kein Sportler gewesen wäre, der sich bei einem Trainingsunfall verletzt hat. Wenn er nur irgendein Junge gewesen wäre, der bei einem dumme Jungenstreich verunglückt wäre. "In der Reha waren viele, denen es viel schlechter ging als dem Niko, und die haben nicht so viel Unterstützung bekommen wie wir", sagt Andrea Sommer. Und auch Nikolai ist dankbar für die Hilfe von der Familie, von Freunden, Bekannten und auch vielen Fremden. Denn sie haben mit ihrem Einsatz einige Hindernisse aus seinem Weg geräumt, die ihm sonst vielleicht gerade die seelische Genesung erschwert hätten. "Natürlich würde ich meine Beine gerne wieder bewegen. Aber grundsätzlich fehlt es mir an nichts."
Nikolais positive, energische Einstellung beeindruckt die Ärzte und Pfleger in der Reha. Doch sie prophezeien Nikolais Eltern auch ein großes psychisches Loch: in der Reha sei alles barrierefrei, diesen Ort kenne Nikolai nur im Rollstuhl. Zu Hause in Kirchanschöring sei das alles anders, dort würden ihm überall Hindernisse begegnen, wo in seiner Erinnerung keine gewesen seien. Doch es kommt anders. Die Hindernisse sind zwar da und es dauert auch alles länger als früher, aber Nikolai überrascht alle – einschließlich seiner Eltern – mit seiner Einstellung: "Natürlich muss ich mehr darüber nachdenken, was für Hilfe ich brauche, und ich muss vielleicht auch besser planen als ein Fußgänger, aber diese Fähigkeiten, dieses Vorausschauen und das Ordnung halten, helfen mir auch im ganzen Leben weiter."
Am Freitag, den 29. September 2017, wird Nikolai aus der Reha entlassen, am nächsten Montag lässt er sich von seiner Mutter bereits die 70 Kilometer zur Schule fahren. Anfangs drei Mal die Woche, im Frühjahr 2018 zieht er dann in ein kleines Einzelappartement mit Kochnische. Darin kommt er alleine gut zu Recht, "nur beim Duschen setze ich gerne mal das Badezimmer unter Wasser", scherzt er. Es ist ein Provisorium, bis er in das barrierefreie Appartement im neu gebauten "Haus der Athleten" ziehen kann.
Auf dem Schulgelände und in seinem Einzelappartement bewegt sich Nikolai schon bald routiniert. Vor Treppen dreht er seinen Rollstuhl, hält sich mit seinen muskulösen Armen am Geländer fest und hangelt sich so rückwärts die Stufen herunter. Im Klassenzimmer schiebt er Stühle aus dem Weg, um durchzukommen. Nikolai Sommer bahnt sich selbst seinen Weg – er weiß genau, was er kann, testet aus, was vielleicht noch möglich ist, und realisiert, wo er an seine Grenzen stößt. Dann bittet er freundlich, aber selbstbewusst um Hilfe, etwa beim Treppensteigen.
"Man wird schon anders wahrgenommen", gesteht Nikolai, "aber nicht schlechter." Manche würden ihn dafür bewundern, wie er mit der Situation umgehe. Dabei will Nikolai gar keine Bewunderung dafür, dass er seinen Alltag meistert. Schließlich bewundere auch niemand andere Menschen dafür, dass sie ihr Leben leben. Und er will auch kein Mitleid. Nikolai will ein ganz normaler Teenager sein – dessen sportliches Können und Leistungen irgendwann für Bewunderung sorgen.
"Geht nicht, gibt’s nicht", ist Nikolais Motto und er will allen, gerade anderen jungen Menschen in einer ähnlichen Situation, zeigen, dass ein "normales" Leben auch im Rollstuhl möglich ist. "Man kann seinen Sport machen und man muss sich auch nicht zu Hause verkriechen", sagt er. Natürlich gibt es Dinge, die er im Rollstuhl anders erlebt, als er sie als Fußgänger erlebt hätte, aber damit kommt er klar. "Es ärgert mich zum Beispiel schon, dass ich nie auf einem Festival tanzen werde, aber deswegen gehe ich trotzdem hin und habe meinen Spaß", erzählt Nikolai entschlossen. Seitenblicke gebe es schon mal, offene Ablehnung habe er bisher allerdings zum Glück noch nicht so häufig erlebt. Aber auch das kommt vor. Als er auf Einladung von Felix Neureuther zum Skirennen nach Sölden gefahren sei, habe er abends mit Freunden feiern gehen wollen. Der Türsteher des Clubs habe nur auf ihn herabgesehen und gesagt: "Der passt nicht in unser Konzept."
Von solchen Erlebnissen lässt sich Nikolai nicht runterziehen. Er schleppt seine Kumpels aus dem Rolli-Basketball-Team, dem er direkt nach seiner Rückkehr aus der Reha beigetreten ist, auch mit in die Disco – etwas, was sich einige von ihnen vorher nie getraut hatten. "Zwei, die sehr behütet aufgewachsen sind, hatten da den Spaß ihres Lebens. Mir macht es Freude, ihr Lächeln zu sehen und zu merken, dass sie sich ein Beispiel an mir genommen haben", erzählt Nikolai sichtlich stolz. Sich zu Hause zu verkriechen und im Selbstmitleid zu versinken sei nicht so sein Ding. Natürlich hadere er, fluche und fände es scheiße, erzählt Mutter Andrea, doch das seien meistens nur fünf Minuten. "Danach geht’s wieder", sagt sie.
Auch die Leidenschaft für den Sport sei nie größer gewesen als jetzt, der Wettkampf immer noch ein wesentlicher Bestandteil seines Lebens. Darauf zu verzichten, nur weil er im Rollstuhl sitzt, kommt für den ehrgeizigen Nikolai nicht in Frage. Der über 1.500 Euro teure einwöchige Monoskikurs beim paralympischen Goldmedaillen-Gewinner Martin Braxenthaler wurde genauso von den Spenden finanziert wie eine vernünftige Monoski-Ausrüstung, die ebenfalls mehrere tausend Euro kostet. Nikolai gleitet von nun an in einer Sitzschale, die mit zwei Bindungen an einem etwas breiteren Ski befestigt ist, durch den Schnee. Die Steuerung, die früher beim Skifahren aus seinen Beinen kam, übernehmen nun der Oberkörper und die zwei Handski. Lankonisch meint er dazu: "Da kann ich jetzt nur noch die Hälfte falsch machen."
Dass hinter ihm seine alten Teammitglieder mit rasender Geschwindigkeit den Hang runterfahren, stört ihn nicht. "Ich fahre für mich", sagt er und ist glücklich, wieder im Schnee zu sein. "Ich tue was für meinen Körper, ich tue was für meine Seele, da kann ich mich wieder mit anderen messen und Spaß haben." Von der Angst, die er bei seiner ersten Fahrt mit dem Mono-Ski verspürt habe, ist nichts mehr übriggeblieben.
Nikolais Ziel ist es, irgendwann bei den Paralympics das Gold zu gewinnen, von dem er nicht weiß, ob er es auf zwei Skiern je geholt hätte. "Keiner kann sagen, wie weit es für mich gegangen wäre und das nervt schon ein bisschen", gesteht er. "Andere hören auf oder fliegen, weil sie nicht gut genug sind. Ich werde nie erfahren, wie weit ich es geschafft hätte." Junioren-Weltmeisterschaft, Europacup - das ist die Welt seiner früheren Konkurrenten. Und womöglich hätte es auch Nikolais Welt sein können.
Von diesem Gedanken lässt er sich aber nicht runterziehen. Stattdessen fordert er sich auch an diesem Tag wieder selbst heraus: Zum ersten Mal seit seinem Unfall fährt er wieder durch die Stangen, die eigentlich für seine früheren Teammitglieder aufgebaut worden sind. Nikolai wirbelt dabei den Schnee auf, wenn er sich in die Kurve legt, und ist wieder ganz in seinem Element.
Im Skigebiet am Götschen trainiert Nikolai Sommer regelmäßig.