Der Köfte-Kosher-Pavillion in Bremen.
© Annette Wagner
Die Portaits von zwölf Opfern rechtsextremer Gewalt sind seit einiger Zeit Blickfang an einer belebten Bremer Straßenkreuzung.
Denkanstoß für Nachtschwärmer und Passanten
Das Projekt "Köfte Koscher" erinnert an Opfer rechter Gewalttaten in Deutschland
Aus einer Portrait-Galerie wird ein interaktiver Gedenkort für Smartphones und VR-Brillen: an das Leben und Sterben von zwölf Opfern rechtsextremer Gewalt erinnert der "Köfte-Kosher-Pavillion" im Bremer "Bermudadreieck". Wo Spaßkultur auf Erinnerungskultur trifft.

Sahhanim Görgü-Philipp ist per Fahrrad unterwegs in die Innenstadt, zum Bremer Landtag. Die GRÜNEN-Abgeordnete wohnt in der östlichen Vorstadt, dem so genannten Viertel. "Wenn ich am Köfte-Kosher-Pavillon vorbei fahre, halte ich automatisch inne. Das sind ja alles Menschen, die fehlen! Die haben Familie, Angehörige, Freunde. Es ist gut, dass hier, so mittendrin im Leben, an die Toten erinnert wird." Zwölf Porträts in grellfarbigem Pop-Art-Stil auf den Wänden eines historischen Trafohäuschens sind seit einiger Zeit Blickfang an einer belebten Straßenkreuzung. Sie würdigen zwölf Opfer rechtsextremer Gewalttaten, alte und junge Menschen, Frauen und Männer - stellvertretend für fast 200 Menschen, die seit der Wiedervereinigung in Deutschland ums Leben kamen. Ende 2018 wurde die Porträtgalerie zum interaktiven Gedenkort erweitert: Unter den Porträts stehen jetzt knappe biografische Daten und QR-Codes. Per Smartphone und 360-Grad-Videos kann man sich seitdem an die zwölf Tatorte beamen, wo die Opfer starben und in deren Leben eintauchen.

Als Anwohnerin und GRÜNEN-Politikerin engagiert Sahhanim Görgü-Philipp sich für Toleranz und gegen Rassismus und Rechtsextremismus.

Das einzigartige Mahnmal fordert Viertelbewohner und Nachtschwärmer zur Auseinandersetzung mit Menschen auf, die willkürlich getötet wurden: wegen ihrer Hautfarbe oder Religion, wegen ihrer sexuellen Orientierung, einer Behinderung oder weil sie obdachlos waren. "Gewalt ist keine Lösung, Gewalt geht gar nicht", das steht für Bistrowirtin Christa Oertel fest, "weder gegen G20-Demonstranten im Hamburg noch gegen einen AfD-Abgeordneten". Aus dem Fenster ihrer Eckkneipe "Cantina" blickt sie direkt auf das unkonventionelle Mahnmal hinaus. Wann immer das Bremer Wetter es erlaubt, stellt sie auch Tische auf den Platz hinaus. Neben schmackhaftem Essen und herzlich-explosivem Lachen gehört ihr ausgeprägter Sinn für Toleranz und für Gerechtigkeit zu Oertels Markenzeichen. Deshalb hat sie sofort ja gesagt, als das Projektteam sie bat, die Virtual-Reality-Brillen zu beherbergen und an Schulklassen und andere Interessierte auszuhändigen. Sie wacht gerne über den außergewöhnlichen Gedenkort.

Nachbarin und Hüterin des Mahnmals: "Cantina"-Wirtin Christa Oertels. 14 Virtual-Reality-Brillen können bei ihr, 14 weitere im Viertel-Ortsamt ausgeliehen werden.

"Köfte Kosher – Gemeinsam gegen Rechts" wird das künstlerische Erinnerungs- und Empowerment-Projekt genannt. Kinder und Jugendliche aus einer Projektgruppe der Islamischen Religionsgemeinschaft Schura Bremen und der Jüdischen Gemeinde Bremen recherchierten bereits 2012 die zwölf Opferbiografien und sprühten deren stilisierte Gesichter in Gestalt von Graffiti-Stencils per Schablonen ringsum auf das Gebäude: Die Jugendlichen hatten sich intensiv mit den Schicksalen der Opfer auseinander gesetzt, aber auch mit der doppelten Diskriminierung, die sie selbst im Alltag erfahren: mal wegen ihrer Herkunft, mal wegen ihrer Religion. Doch nach einigen Jahren war die grellbunte Porträtgalerie durch Graffiti und Tags lokaler Sprayern so verschmiert, dass man die Gesichter kaum noch erkennen konnte. Sahhanim Görgü-Philipp empfand das Übersprayen als "respektlose Kränkung der Opfer". Andere Anwohner denken eher, dass die - mehr oder weniger kunstfertigen - Bremer Sprayer im Dunkel der Nacht schlicht nicht realisierten, was sie da entweihten.

Der belebte Platz rund um das interaktive Mahnmal heißt im Volksmund Bermudadreieck, denn in den angrenzenden Bars und Kneipen des bunten, interkulturellen Viertels kann nachts verloren gehen, wer möchte. Vor allem am Wochenende zieht es Schülerinnen und Schüler, Studierende und vom Land in die Stadt flutende Cliquen zum Feiern hierher. Jetzt wird die Spaßkultur trifft mit Erinnerungskultur konfrontiert. Tagsüber kreuzen die Viertelbewohner den Kieselplatz rund um das Mahnmal, ältere Linksliberale und zugewanderte Menschen aus vielen Kulturen und Ländern, zu Fuß und Fahrrad. Drei Kindergärtnerinnen führen eine kleine Kolonne fröhlich-plappernder Mützenzwerge in Richtung Weserufer spazieren. Gastwirtin Christa Oertel winkt ihnen zu, dann fegt sie brummig die Scherben der letzten nächtlichen Party vor dem Gedenkort zusammen.

Ende 2018 war endlich genug Geld beisammen, um den Köfte-Kosher-Pavillon zu restaurieren und dessen Inhalte künstlerisch und inhaltlich zu vertiefen. Man übertünchte die Kreativpatina der illegalen Sprayer mit der grauen Wandfarbe des Gebäudes, die Porträts wurden farblich aufgefrischt, unter abwischbarem Acrylglas gesichert und eine erläuternde Texttafel zum Projektziel angebracht.

Eine Gruppe multimedia-versierter Schüler aus einer Kunstklasse der Wilhelm-Wagenfeld-Schule reicherte die Galerie der Opferporträts mit 360-Grad-Panoramen der Tatorte und biografischen Informationen an, die man Ort per QR-Code abrufen oder von Zuhause aus auf der Webadresse www.koefte-kosher.de ansehen kann. Mal fügt sich in einem virtuellen Raum aus Zeitungsseiten ein Mobile mit Erinnerungspolaroids zur Fotoerzählung über die Heimat Mosambique eines der Ermordeten zusammen. Mal wird ganz abstrakt, mit 52 kreuz und quer über einen Tatort laufenden schwarzen Strichen, die Auslöschung von 52 Jahren Leben dargestellt. Künstlerisch angeleitet und technisch unterstützt wurden sie von der Bremer Künstlerin Elianna Renner und von Webcoder Can Sezer sowie pädagogisch betreut von einem Lehrer der Wilhelm-Wagenfeld-Schule und der in Bremer Antidiskriminierungsprojekten engagierten Kulturwissenschaftlerin Irina Drabkina. Finanziert wurde die zweite Phase des Projektes aus Stiftungsgeldern und Mitteln des Ortsteilbeirates.

Der Pastor der nahegelegenen Friedensgemeinde, Bernd Klingbeil-Jahr, und zwei seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen zum Mittagessen in die "Cantina". Bis die bestellten Gerichte auf den Tisch kommen, testen sie trotz Bremer Nieselregen die interaktiven Features der Open-Air-Gedenkstätte. Die beiden Frauen klemmen ihre Smartphones in die schwarzen VR-Brillen und umkreisen mit vorsichtigen Schritten das Gebäude, scannen hier und dort einen QR-Code unter den grellfarbigen Porträts. Abgeschottet vom Alltagstreiben ringsum tauchen sie in zwölf Tatorte rechtsradikal motivierter Morde irgendwo in Deutschland ein - und in die zugehörigen Schicksale. Eines der zwölf Opfer ist Marwa El-Sherbini. Der bis dahin namenlose Platz rund um das Köfte-Kosher-Mahnmal wurde bei der Wiedereinweihung Ende 2018 nach ihr benannt. Die ägyptische Pharmazeutin und Handballnationalspielerin hatte drei Jahre lang in Bremen gelebt, bevor sie 2008 mit Mann und Kind nach Dresden umzog.

Megumi Ishida-Hahn taucht mit der VR-Brille in den Gerichtssaal ein, in dem Marwa El-Sherbini ermordet wurde.

"Oh, jetzt gehe ich in den Gerichtssaal hinein" ruft Megumi Ishida-Hahn, Chorleiterin in der Friedenskirche. Überrascht hebt sie beide Hände himmelwärts und erstarrt. Obwohl das 360-Grad-Video in ihrer VR-Brille zunächst nur den leeren Saal abbildet, entstehen sofort die zugehörigen Bilder in ihrem Kopf. Es gab Fotos und Fernsehberichte von der bestialischen Tat: Mit 18 Messerstichen wurde Marwa El-Sherbini 2008 in einem Dresdener Gerichtssaal von einem russlanddeutschen Aussiedler ermordet. Der Mann hatte sie auf einem Spielplatz als "Terroristin, Islamistin und Schlampe" beschimpft. Ein Zeuge hatte die groben Beleidigungen angezeigt. Als die junge Frau ins Gericht kam um auszusagen, erstach der Täter sie vor den Augen ihres Mannes und ihres dreijährigen Sohnes. "Wie kann es sein, dass inmitten einer Verhandlung die Hauptzeugin durch den Angeklagten ermordet wird?" fragen die Jugendlichen der Projektgruppe in ihrem Text auf der Homepage. Das 360-Grad-Video vom Tatort zerfällt am Ende in schwarze Bruchstücke, weil "auch Justitia, die ‚Göttin der Gerechtigkeit’, durch den rassistischen Mord beschädigt worden sei".

Pastor Bernd Klingbeil-Jahr will das interaktive Mahnmal 2019 mit seinen Konfirmanden für lebendige Lektionen über Rechtsradikalismus nutzen. Er möchte den Siebt- und Achtklässlern vermitteln, dass im toleranten Bremer Viertel zwar 85 % der Bürger links der Mitte wählen, "aber anderswo in Deutschland trotzdem drei rassistische Übergriffe pro Tag stattfinden". Sie sollen erfahren, dass in Deutschland auch ein alter Mann jüdischen Glaubens, der Pogrome und Zwangsarbeit überlebt hatte, im Altenheim sterben musste, erschlagen von einem einstmaligen nationalsozialistischen Peiniger - wie 1992 Alfred Salomon in Wülfrath; oder dass ein argloser kurdischstämmiger Kioskbesitzer dem Fremdenhass der NSU zum Opfer fiel – wie 2006 Mehmet Kuba??k in Dortmund.

Kirchenmusikerin Megumi Ishida-Hahn ist zwar bedrückt von den traurigen Schicksalen, aber der bürgernahe Ansatz, ein historisches Gebäude mitten in einem Wohn- und Kneipenviertel zum Mahnmal gegen Ausgrenzung und Rechtsextremismus umzugestalten, begeistert sie: "In Japan wäre so etwas nicht möglich! Da wird über sozialpolitische Probleme geschwiegen. Cool, dass das hier geht." Während man in vielen deutschen Museen über Outreach-Formate nachdenkt, die Objekte aus den Sammlungen interaktiv an Besucherinnen und Besucher herantragen und gesellschaftliche Debatten initiieren sollen, hat hier ein Kollektiv aus Künstlern und Pädagogen einen relevanten Gedenkort im Offenen geschaffen, begehbar bei Tag und bei Nacht. Dessen Appell lautet: Lasst uns über Ausgrenzung und über Toleranz sprechen, hier und jetzt. Diese Botschaft kommt laut "Cantina"-Wirtin Christa Oertel bei zunehmend mehr Bremer Bürgerinnen und Bürger und auch bei Schulklassen an.

Eigentlich muss Christa Oertel schon wieder in ihre Küche, um die nächsten Gäste zu bekochen. Aber einen letzten Gedanken will sie schnell noch auf den Punkt bringen: "Das ist ‘ne bunte Ecke hier am Bermudadreieck. Jeder kann machen, was er will." Dass nicht jeder künstlerische Ausdruck dieser Freiheit ihr gefällt, sieht man am kritischem Blick, den sie zum monumentalen Wandgemälde auf dem indischen Fast-Food-Laden gegenüber wirft: Zwei Stockwerke hoch ragt ein Goldener Sikh-Tempel in den Bremer Himmel, auf mannsgroße Pizzen und Pommes-Frites-Tüten gestützt. Aus ihrem Blickwinkel kollidiert dessen farbliche Wucht mit dem Köfte-Kosher-Pavillon.  Doch dessen Inhaber würdigen damit ihren hinduistischen Glauben. Also bleibt es dabei: "Die Freiheit der Menschen und die Freiheit der Gedanken – die sind für mich nicht verhandelbar. So lange einer dadurch, wie er ist und wie er lebt, keinen anderen Menschen gefährdet, muss das okay sein."