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TV-Tipp: "Tatort: Friss oder stirb" (ARD)
30.12., ARD, 20.15 Uhr
Im Grunde ist jeder Krimi ein Spiel zwischen Autoren und Publikum: weil der Reiz umso größer wird, je besser es den einen gelingt, die anderen in die Irre zu treiben. Beliebt ist zum Beispiel das Muster mit den beiden scheinbar völlig unabhängig voneinander begangenen Verbrechen, die sich schließlich als zwei Seiten derselben Medaille entpuppen; oder aber, in selteneren Fällen, tatsächlich rein gar nichts miteinander zu tun haben.

Die Autoren Jan Cronauer und Matthias Tuchmann haben für "Friss oder stirb" eine dritte Variante gefunden. Der Film beginnt mit zwei parallel erzählten Handlungssträngen: In Luzern wird die Leiche einer leitenden Universitätsangestellten gefunden; irgendjemand hat in offenbar großer Wut mehrfach auf sie eingestochen. Zur gleichen Zeit ist ein bewaffneter Mann auf dem Weg in die Schweiz; auf einem Autobahnparkplatz macht er Schießübungen. Sein Ziel ist ein luxuriöses Anwesen. Er nimmt die beiden Frauen im Haus als Geisel. Gemeinsam warten die drei nun auf Anton Seematter, den Ernährer der Familie, aber zur allgemeinen Überraschung steht plötzlich auch die Mordkommission vor der Tür, denn Seematters Auto war in der letzten Nacht am Tatort. Damit beginnt nach nicht einmal einer halben Stunde, was sich andere Krimis für die letzten Minuten aufheben: das Finale.

 Die verdichtete Handlung ist äußerst überschaubar, zumal sie sich größtenteils innerhalb des Eigenheims und in einer Nacht zuträgt, aber daraus resultiert auch die Spannung des Films; die Krimis des Schweizer Regisseurs Andreas Senn (zuletzt unter anderem "Der Kommissar und das Kind") sind ohnehin stets sehenswert. Weil "Friss oder stirb" über weite Strecken ein Kammerspiel ist, sind die Schauspieler umso wichtiger, und auch in dieser Hinsicht gibt es nichts auszusetzen. Vorzüglich besetzt sind vor allem die beiden wichtigsten Kontrahenten: Mišel Matičević, mit dem Senn schon 2004 die hübsche Romanze "Das Zimmermädchen und der Millionär" gedreht hat, spielt den Eindringling, der mehr und mehr zur tragischen Figur des Films wird. Nach und nach geben Cronauer und Tuchmann seine Motive preis: Der Deutsche arbeitet für einen Betrieb in Bremerhaven und fürchtet um seinen Arbeitsplatz. Seematter, sein Gegenspieler, ist Geschäftsführer eines großen Schweizer Unternehmens, das die deutsche Firma übernommen hat. Kapitalisten sind im Fernsehfilm automatisch die Bösen, aber auch Roland Koch gelingt das Kunststück, den Manager zunehmend sympathisch erscheinen zu lassen. Für die erste Verblüffung sorgt das Drehbuch, als der Konzernchef die Forderung des Geiselnehmers erhöht. Mike Liebknecht verlangt die sofortige Zahlung von gut einer halben Million Euro; das wäre der Lohn, der ihm bei einer Kündigung in den nächsten zwanzig Jahren entgehen würde. Seematter stellt fest, dass er die Inflation nicht mit einbezogen hat, und erhöht die Summe entsprechend; die Rechnung stellt er bis auf den Cent exakt im Kopf an. Dass er in seiner Freizeit aus Schrott originelle Skulpturen bastelt, die Liebknecht gefallen, ist selbstredend ein weiteres Sympathiemerkmal. Seematter nimmt den Eindringling zwar auch mal ins Visier seines Schnellfeuergewehrs, aber nach einer handfesten Rauferei trinken die beiden gegensätzlichen Männer erst mal ein Bier und bieten sich das Du an.

Die entsprechenden Szenen sind jedoch Teil einer cleveren Dramaturgie. "Friss oder stirb" bleibt trotzdem ein fesselnder Thriller, was auch dank der stellenweise recht agilen Kameraführung liegt; Philipp Sichler hat für Senn auch schon bei der "Bella Block"-Episode "Die schönste Nacht des Lebens") erstklassige Arbeit geleistet. Momente wie die Verbrüderung der beiden Männer sind ohnehin jeweils bloß die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Parallel zur Geiselnahme sorgen die Autoren immer wieder dafür, dass der Mord an der Uni-Dozentin nicht in Vergessenheit gerät. Weil sich auf dieser Ebene zwischenzeitlich neue Entwicklungen ergeben haben, macht der auf dem Titelbild einer Wirtschaftszeitschrift als "Dealmaker" gepriesene Manager dem Deutschen schließlich ein Angebot, dass der nicht ablehnen kann.

Das Ermittlerduo Flückiger und Ritschard (Stefan Gubser, Delia Mayer) hat angesichts der personellen Konstellation zwangsläufig nicht viel zu tun; kaum sind sie im Haus von Seematter eingetroffen, werden sie gefesselt. Aber natürlich hat schon allein ihre Anwesenheit zur Folge, dass Liebknecht angesichts von fünf Geiseln den Überblick verliert und recht bald überfordert ist. Als Flückiger ihm eine Antwort gibt, die ihm nicht passt, schießt er dem Polizisten kurzerhand ins Bein. Obwohl die Situation eigentlich recht überschaubar ist, sorgen Buch und Regie immer wieder für überraschende und stellenweise auch absurde Entwicklungen: Als Flückiger sich aus dem Panikraum des Hauses beim Sicherheitsdienst meldet, will man dort erstmal das Passwort wissen. Schließlich spitzt sich die Lage nach mehreren Fluchtversuchen immer mehr zu, und so kommt es aufgrund eines tragischen Missverständnisses zu weiteren Todesfällen; das Ende der Geschichte führt dank einer großen humanitären Geste des Kommissars zu einem dicken Kloß im Hals.