Es war um die Jahrtausendwende, als John Barr auf einer Radtour zufällig in Meseberg vorbeikam. Der kleine Ort liegt 70 Kilometer nördlich von Berlin inmitten von Feldern und Wäldern. Barr radelte am Schloss vorbei, das die Bundesregierung als Gästehaus für Staatsbesuch nutzt, und öffnete die Tür der evangelischen Kirche. Er schaut sich immer gern die Kirche an, wenn er einen Ort kennen lernt. Ein alter Mann zeigte ihm alles, auch die Orgel. "Man konnte zwar noch darauf spielen, aber es war dringend nötig, dass ein Fachmann einen Blick darauf warf", sagt der 72-Jährige in fließendem Deutsch. Die Bundesrepublik ist längst seine zweite Heimat. Seit 1985 lebt er einen Teil des Jahres in Berlin, den anderen in den USA.
Als Germanistikstudent in Göttingen hatte er seinerzeit ein Praktikum bei einer Orgelbaufirma gemacht, um das Handwerk besser kennen zu lernen. Seit den 1970er Jahren hat John Barr sein Orgelnetzwerk ständig erweitert. Viele seiner Orgelbaufreunde sind inzwischen pensioniert und haben Zeit. So konnte Barr der Gemeinde von Meseberg anbieten, dass er ihr den Kontakt zu einem Profi vermittelt. Glücklich nahm die Gemeinde an – und die Männer machten sich ans Werk.
Auch John Barr krempelte die Ärmel hoch. "Als Erstes haben wir alle Orgelpfeifen herausgenommen und sie zum Restaurant auf der anderen Straßenseite getragen", erinnert er sich. "Solche Gaststätten haben große Spülen und lange Edelstahlflächen, wo man gut Orgelpfeifen waschen kann." Die Holzpfeifen behandelten sie mit verdünntem Leim, um die Löcher zu schließen, die die Holzwürmer hinterlassen hatten. "Anschließend half uns ein Freund aus Göttingen, den Klang jeder einzelnen Pfeife wieder in den Originalzustand zu bringen."
Die Einwohner von Meseberg haben jetzt wieder eine wohlklingende Orgel, die sie im Gottesdienst und zu Konzerten hören. Darüber freut auch Alois Demuth, der zu Zeiten von Barrs Rettungsprojekt Bürgermeister des Ortes war. "In jede Kirche gehört Musik", sagt der ältere Herr. "Welcher Chor stimmt an, wenn die Orgel nicht mitspielt? Ich höre sie einfach gern."
Die Kunde von dem Orgelretter aus Amerika sprach sich rasch herum. So hat John Barr seit der Jahrtausendwende nach eigenen Angaben etwa 500 Instrumente gesichtet, viele davon im Land Brandenburg. Er musste feststellen, dass etliche davon in einem schlechten Zustand waren, auch weil den Gemeinden das Geld fehlte. Die mit ihm befreundeten Orgelbauer konnten einen Teil der Instrumente reparieren oder instandsetzen, wobei die Gemeinden ihnen nur die Kosten für Anfahrt und Material erstatten mussten. Auch John Barr stellte nur seine Reisekosten in Rechnung. Ein Auto besitzt er nicht. Er ist mit dem Fahrrad, mit Bus oder Bahn unterwegs.
Der Pfarrerssohn stammt aus einer musikbegeisterten Familie, in der alle Kinder Klavierunterricht hatten. "Mein Vater erzählte mir später, dass er mich, als ich zwei Jahre alt war, kaum aus der Kirche herausbekommen konnte, so lange die Orgel spielte", sagt er und lächelt. "Ich stand wie verklärt davor und wollte nur zuhören." Während seiner ersten Zeit an der University of California in Berkeley belegte er auch Kurse im praktischen Musizieren. "Doch zu meinem Hauptfach wollte ich das nicht machen", sagt er. "Ich bin nicht so begabt wie die Künstler, die ich bewundere." Immerhin spielt er noch so gut, dass er auf der Orgel von Meseberg mehrere Stücke von Bach vortragen kann, ohne vorher lange geübt zu haben.
In die Kirche geht er nicht nur zum Musizieren. John Barr hat in seinem Leben viele Entscheidungen aus christlicher Überzeugung getroffen. Prägend dabei war sein Vater, laut Barr ein gebildeter Mann und überzeugender Geistlicher, "ein Vorbild für viele". Der Vater stand auch hinter ihm, als John Barr als Student den Kriegsdienst verweigerte, eben weil er das christliche Gebot, nicht zu töten, so ernst nahm. Deshalb wollte er nicht in den Vietnamkrieg ziehen – er will überhaupt niemals eine Waffe in die Hand nehmen. "Ich schieße nicht auf Menschen!", sagt er bestimmt. Seinerzeit knüpfte er Kontakt zur Friedensbewegung in den USA, unterschrieb Resolutionen gegen das Sterben in Vietnam, beteiligte sich an Demonstrationen.
"Ich hatte gehört, dass Schweden Amerikaner aufnahmen, die den Kriegsdienst verweigerten", sagt er. Er lernte Schwedisch, auch, als er über ein Austauschprogramm nach Göttingen kam. Er ließ sich vom schwedischen Konsulat Unterlagen zuschicken und brachte schon mal in Erfahrung, wieviel Unterstützung ihm der schwedische Staat am Anfang zahlen würde. Doch sein Antrag auf Befreiung vom Kriegsdienst aus ethischen Gründen wurde schließlich von der zuständigen US-amerikanischen Stelle bewilligt. Und John Barr zog es eher nach Deutschland als nach Schweden – auch weil die hiesige Orgelbautradition so lebendig ist. "Orgeln gehören zur deutschen Kultur!", sagt er. "Jede Dorfkirche hat in Deutschland eine Orgel. Das ist ein Wunder." Wenn die Leute nicht in den Gottesdienst kommen wollten, dann würden manche wenigstens zu einem Konzert in die Kirche gehen.
Dass er Schweden bis heute nicht einmal als Tourist besucht hat, liegt unter anderem daran, dass es als teuer gilt. Er hat sein Leben lang wenig Geld besessen. "Meine Eltern haben mir beigebracht, dass andere Werte wichtiger sind", sagt er. "Außerdem weiß ich ja, dass Kriege mit Steuergeldern finanziert werden." Auf keinen Fall wollte er, dass seine Steuern "unwürdig" verwendet werden, wie er es nennt. Seine Einkünfte aus Gelegenheitsjobs kalkulierte er stets so gering, dass darauf keine Einkommenssteuer fällig wurde. Ein paar hundert Euro im Monat reichen ihm, der nie eine Familie gegründet hat, aus.
Die Orgel von Meseberg liegt ihm bis heute am Herzen, auch weil sein Rettungsprojekt in dieser Kirche seinen Ausgang nahm. "Es ist eine Hollenbach-Orgel", sagt John Barr und erzählt von Albert Hollenbach, einem Brandenburger Instrumentenbauer, der 1904 starb. Seine Geschäfte liefen gut, bis die Preise für Zinn explodierten und Hollenbach sich weigerte, für die Pfeifen minderwertiges Material zu verarbeiten. Das stürzte ihn ins Elend. Inzwischen wird Albert Hollenbachs Orgelbaukunst wieder hoch geschätzt. Dazu hat John Barr beigetragen. "Ich war schon in 44 Dörfern, die eine Hollenbach-Orgel haben. Ich habe den Leuten erzählt, was für ein toller Orgelbauer er war. Vorher wussten sie gar nicht, wer das war. Heute sind sie stolz auf ihre Hollenbach-Orgel."