Steil, undifferenziert, wenn nicht sogar verstörend apodiktisch – so war mein erster Eindruck von Karl Barth (1886-1968), als er mir im Theologiestudium begegnete. Zunächst lernte ich ja auch Sätze wie diese kennen: "Religion ist Unglaube; Religion ist eine Angelegenheit, man muß geradezu sagen: die Angelegenheit des gottlosen Menschen." Oder: "Jesus als der Christus ist die uns unbekannte Ebene, die die uns bekannte senkrecht von oben durchschneidet."
Trotz eines gewissen Widerstands (oder vielleicht gerade deswegen) war ich fasziniert. Denn es handelte sich um klare, entschiedene Aussagen, an denen ich mich abarbeiten konnte. Vieles, was sonst im Studium vorkam, klang zwar richtig, war aber eher langweilig, weil überdifferenziert. Von daher kopierte ich mir in der Münchner Universitätsbibliothek jenen Paragraphen der "Kirchlichen Dogmatik", in dem die Religion als Unglaube bezeichnet wird, um ihn mir selbständig zu erschließen.
Muss ich grundlos glauben?
Als Katholik, der über eine bloß oberflächliche Kenntnis der neueren evangelischen Theologiegeschichte verfügte, überlas ich natürlich viele Anspielungen. Ich ermaß gar nicht recht, was Barth da alles verhandelte. Nachdrücklich beeindruckte mich jedoch die systematische Kraft, die in jeder Zeile der "Kirchlichen Dogmatik" deutlich wurde. Da wollte jemand etwas zum Ausdruck, ja zur Geltung bringen, was sich scheinbar nur in vereinseitigender Zuspitzung sagen ließ. Nach einiger Zeit kaufte ich mir den "Römerbrief" in seiner zweiten Fassung, den ich mit vielen Fragezeichen, aber auch manchen zustimmenden Randvermerken versah.
Zu einem echten Barthianer habe ich es allerdings nie gebracht, sondern eher zu einem lernbereiten, mit dem Autor sympathisierenden Leser. Mir fehlte und fehlt nämlich eine überzeugende Vermittlung von Theologie und Anthropologie. Muss nicht der Mensch sich erst selbst fraglich werden, vielleicht sogar sich als eine offene Frage verstehen, auf die der Glaube an Gott dann eine Antwort eröffnet? Wie sonst sollte das Christentum von Interesse sein – gerade in einer säkularen Welt? Lediglich auf Jesus Christus zu verweisen, in dem Gott und Mensch verbunden seien, löst nicht das Problem. Oder muss ich grundlos glauben?
Als der Studienabschluss näher rückte und für mich die Wahl eines Promotionsthemas anstand, traten der "Römerbrief" und die "Kirchliche Dogmatik" mit einem Mal erneut in den Fokus. Mit großem Interesse hatte ich nämlich die Werke des katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar (1905-1988) gelesen. Immer wieder ließ Balthasar durchblicken, wie viel er Barth verdankte, ohne ihm in jeder Hinsicht folgen zu können. Er war sogar eigens nach Basel gezogen, um das Gespräch besser führen zu können. Dem nachzugehen, schien auch meinem Doktorvater lohnend. So entstand eine Dissertation über die katholische Barth-Rezeption im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Erstaunlicherweise hatten sich zahlreiche Theologen, die damals allesamt Priester waren, und interessierte Laien mit dem "Römerbrief" und der "Kirchliche Dogmatik" auseinandergesetzt – teils ablehnend, teils zustimmend. Von besonderem Interesse war Barths Pochen darauf, dass Aussagen über Gott von Jesus Christus her zu gewinnen sind. Statt an der konkreten Offenbarung orientierte sich die Theologie damals eher an der Vernunft, war in diesem Sinne eher abstrakt-philosophisch. Vielen Katholiken eröffnete Barth eine alternative Perspektive. In einigen Fällen entstanden sogar persönliche, über Jahre bestehende Kontakte. Beispielsweise besuchte Barth wiederholt die Benediktinerabtei Maria Laach, um mit Mönchen zu sprechen und die Liturgie zu besuchen. Er war offenbar bereit, hinzuhören und zu lernen, obwohl er dem Katholizismus zeitlebens skeptisch gegenüberstand.
Mit einer Mischung aus Verwunderung und, Erstaunen, auch mit ein wenig und Begeisterung verfolgte er das im Jahr 1962 eröffnete Zweite Vatikanische Konzil mit. Zu diesem war er übrigens als Beobachter eingeladen worden, konnte krankheitsbedingt jedoch nicht teilnehmen. Was Barth den Konzilsvätern wohl zu bedenken gegeben hätte? Immerhin reiste er später nach Rom, traf bekannte Theologen wie Karl Rahner (1904-1984) und Joseph Ratzinger (*1927), außerdem Papst Paul VI. (1897-1978). Es entstand die schmale, aber gehaltvolle Schrift "Ad limina apostolorum", in der Barth seine Sicht auf den in Bewegung gekommenen Katholizismus darlegte. Wenige Monate vor seinem Tod hielt er einen Vortrag, dessen Titel bezeichnend ist: Kirche in Erneuerung. Ständig hat sich die Kirche zu erneuern, indem sie sich Jesus Christus zuwendet. Nur so ist sie nämlich sie selbst.
Während der Promotionszeit habe ich viele wunderbare, ernsthaft um Theologie und Kirche bemühte Christen unterschiedlichster Konfession kennenlernen können – namentlich in Princeton und in Basel, Zentren der weltweiten Barth-Forschung. Gerade jenes Semester, das ich in den USA verbringen konnte, hat mich nachhaltig geprägt. Die dortigen Professoren widmeten mir generös ihre Zeit, machten mich mit ganz unterschiedlichen Interpretationsansätzen bekannt. Ebenso eindrücklich fand ich, in Barths letztem Wohnhaus in Basel die dort archivierte, häufig noch unveröffentlichte Korrespondenz auszuwerten. Die konkreten Lebensumstände eines Denkers kennenzulernen, hilft doch sehr. Es freut mich bis heute, dass ein bekannter evangelisch geprägter Verlag meine schließlich an der Universität Mainz fertig gestellte Dissertation in sein Programm aufnahm und druckte. Auf diese Weise wurde sie nämlich über die Grenzen der katholischen Theologie hinaus wahrgenommen. So meldeten sich einige Pfarrerinnen und Pfarrer bei mir.
Die Beschäftigung mit Karl Barth bringt also Menschen zusammen. Mit Sicherheit gilt das auch im anstehenden Barth-Jahr, das der Reformierte Bund federführend organisiert hat. Nicht nur im deutschen Sprachraum finden zahlreiche Veranstaltungen statt. Selbstverständlich beteilige ich mich, hoffe insbesondere, dass möglichst viele Studierende etwas von jener Haltung mitbekommen, die Barth als "theologische Existenz" bezeichnete. Er meinte damit eine bestimmte Haltung. Wer sich mit dem Christentum befasse, müsse immer wieder verwundert sein können, sich also nicht abschließen; müsse sich betreffen lassen, also die Distanz zu dem Gegenstand aufgeben, was einem begegne; müsse sich verpflichten, vom Gott des Evangeliums in Beschlag nehmen lassen; müsse stets neu um den eigenen Glauben ringen. Es geht um engagiertes Denken und Glauben.
Solch eine Haltung wünsche ich mir selbst und vielen anderen Theologen. Mut macht mir in dieser Hinsicht ein sich an Abiturienten wendender Wettbewerb, den wir an der Theologischen Fakultät Paderborn jährlich veranstalten. Ausgezeichnet werden Facharbeiten, also schriftliche Bearbeitungen eines Themas, die im Fach Religion erstellt wurden. Kürzlich wurde die Arbeit einer Schülerin prämiert, die sich engagiert mit Karl Barth als Wegbereiter der Ökumene auseinandergesetzt hat. Es geht also auf gute Weise weiter, mit einer neuen Generation!