"Menschen hungern nach Brot!" Mit diesem Weckruf startete die erste Brot für die Welt-Spendenaktion im Advent 1959. Auch heute, fast sechzig Jahre später, ist der Hunger in der Welt noch nicht überwunden. Dabei wurden im weltweiten Kampf gegen den Hunger durchaus bemerkenswerte Fortschritte errungen. Zwanzig Prozent der Weltbevölkerung hatten vor 60 Jahren nicht ausreichend zu essen. Der Anteil der Hungernden an der Weltbevölkerung hat sich seither halbiert. Allein zwischen 1999 und 2013 ist auch die Zahl der Menschen, die in extremer Armut, das heißt von weniger als 1,90 US-Dollar Einkommen am Tag leben müssen, um mehr als die Hälfte zurückgegangen, von 1,7 Milliarden Menschen auf 767 Millionen Menschen. Damit ist auch der Anteil der extrem Armen an der Weltbevölkerung von 28 Prozent auf 11 Prozent gefallen.
Diese Entwicklungserfolge gingen mit einer besseren Gesundheitsversorgung und einer steigenden Lebenserwartung der Menschheit einher. Den Errungenschaften steht freilich entgegen, dass es immer noch zu viele Menschen gibt, die Hunger leiden und in Armut leben müssen. Dabei wissen wir, dass unsere wohlhabende Erde ausreichend Ressourcen bereitstellt, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Die Verfügbarkeit an Nahrungsmitteln pro Kopf ist in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen. Kein Mensch müsste hungern. Und doch ist zuletzt im dritten Jahr in Folge die Zahl der Hungernden in der Welt wieder angestiegen auf aktuell 821 Millionen bzw. 11 Prozent der Weltbevölkerung. Ursachen dafür sind in erster Linie kriegerische Auseinandersetzungen und die Folgen des Klimawandels.
Noch immer hungern Menschen nach Brot – jeder neunte von ihnen. Dass der Hunger weiter fortbesteht, zählt zu den größten Menschenrechtsverletzungen unserer Zeit. Vor allem Menschen in ländlichen Regionen und Angehörige diskriminierter Bevölkerungsgruppen sind von der Teilhabe am wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand ausgeschlossen. Die historische Herausforderung, die Not in der Welt zu überwinden, bleibt bestehen. Aber die Frage nach der Überwindung des Mangels wandelt sich immer mehr zu der Frage nach der Überwindung von menschengemachter Ungerechtigkeit. "Hunger nach Gerechtigkeit" lautet daher das Motto der 60.Spendenaktion von "Brot für die Welt".
In einer Welt, deren Wohlstand Tag für Tag wächst, in einer Welt, die weitaus mehr Nahrungsmittel bereitstellt, als die Menschheit bräuchte, um ihren Hunger zu stillen, scheint nunmehr die Utopie einer Weltgemeinschaft, in der niemand mehr Hunger und Armut leiden muss, in greifbare Nähe gerückt. Die Verwirklichung des alten Menschheitstraums einer Welt ohne Hunger und Armut wurde mit den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen in einen konkreten Zeitplan gegossen. Mit der Halbierung von Hunger und Armut mag man sich nicht mehr zufrieden geben. Bis 2030 soll die Armut "in all ihren Formen und überall" überwunden und sollen Hunger und Mangelernährung beendet werden. Darauf hat sich die Staatengemeinschaft im Jahr 2015 mit den ersten beiden ihrer 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (SDGs) verpflichtet.
Doch auch die feierliche Erklärung der Vereinten Nationen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass für hunderte Millionen Menschen, die in von Gewalt und Krieg geprägten Regionen leben, derzeit kaum Aussicht darauf besteht, in absehbarer Zeit Armut und Hunger entkommen zu können. Auch bei vielen anderen Zielen, die den Klimaschutz, den Schutz der Meere, die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit oder der Artenvielfalt, den Zugang zu sauberem Wasser oder die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit betreffen, hinkt der Stand der Umsetzung hinter dem Notwendigen hinterher. Man kann die Augen nicht davor verschließen, dass der Klimawandel weiterhin ungebremst voranschreitet und sich die Umweltzerstörung in vielen Teilen der Welt beschleunigt hat. Die Welt ist noch nicht auf dem Pfad einer gerechten und nachhaltigen Entwicklung.
Für "Brot für die Welt" und seine Partnerorganisationen wird es daher in den kommenden Jahren immer wichtiger, die Regierungen in Nord und Süd an die im September 2015 gegebenen Versprechen zur Verwirklichung der SDGs zu erinnern. Dabei sehen wir heute auch sehr viel schärfer, als dies noch vor sechs Jahrzehnten möglich war, dass die Überwindung der Armut und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als zwei Seiten einer Medaille behandelt werden müssen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Die verheerenden Folgen des Klimawandels zeigen dies deutlich. Sie treffen vor allem die verletzlichsten Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel die Bewohnerinnen und Bewohner der kleinen Inselstaaten im Pazifik. Angesichts ihrer niedrigen Treibhausgasemissionen haben diese besonders in Mitleidenschaft gezogenen Regionen allerdings den kleinsten Anteil an der Verursachung des Klimawandels. So offenbart sich auch hinter der drohenden Klimakatastrophe ein tiefgreifendes Gerechtigkeitsproblem. Da die wohlhabenden Staaten weit über ihre ökologischen Verhältnisse leben, wird in Zukunft auch verstärkt von Selbstbeschränkung und Verzicht die Rede sein müssen. In einer ökologisch begrenzten Welt ist Armutsüberwindung ohne Reichtums Minderung nicht mehr vorstellbar.
Die Vereinten Nationen haben vor drei Jahren mit der Vereinbarung der Ziele für eine globale Entwicklung, aber auch mit dem Abschluss des Pariser Klimaabkommens, ein ermutigendes Zeugnis für die Kraft der internationalen Kooperation und der solidarisch geteilten Verantwortung abgelegt. Seit 2015 ist allerdings die Bereitschaft vieler Staaten, sich auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit einzulassen, deutlich geschwunden. Der Multilateralismus ist brüchig geworden. "Brot für die Welt" engagiert sich daher verstärkt in internationalen Netzwerken wie der ACT-Alliance, die die Stimme der grenzüberschreitenden Zivilgesellschaft auf weltweiten UN-Gipfeln, vom Klimagipfel bis zum Menschenrechtsrat, zur Sprache bringen. Wir möchten mehr denn je deutlich machen, dass das weltweite Gemeinwohl und der Schutz der globalen Gemeingüter über jeder kurzsichtigen nationalen Interessenpolitik stehen müssen.
Allerdings sehen wir auch mit Sorge, wie die Handlungsräume für zivilgesellschaftliches Engagement in immer mehr Ländern eingeschränkt werden. Die wachsende Repression und Kriminalisierung, der sich diejenigen ausgesetzt sehen, die sich in Menschenrechtsorganisationen oder sozialen Bewegungen engagieren, erweisen sich als Indiz für eine weltweite Krise der Demokratie. Autokratische Regime gewinnen in vielen Ländern die Oberhand, der Einsatz für politische, soziale und ökonomische Teilhabe gerät unter Druck. Die Verteidigung und Erweiterung zivilgesellschaftlicher Handlungsräume zählt in dieser Situation zu einer der wichtigsten Aufgaben einer solidarischen Entwicklungs- und Menschenrechtsarbeit. Der Ruf nach Gerechtigkeit verstummt auch in größter Bedrängnis nicht. Wir alle hungern nach Gerechtigkeit.