"Am Dienstag morgen fing Nelly an mit unruhigen Fragen, und schon am Nachmittag kam es zu einem jener Ausbrüche weiblicher Dialektik, denen ich so schlechterdings nicht gewachsen bin, vor denen ich nur fliehen möchte oder auf die ich nur mit kaltem Zorn reagieren könnte, wenn ich mir nicht sagen müßte […], daß ich ja das Karnickel bin, das wirklich an Allem schuld ist und das nun mit Recht so gezüchtigt wird." Am 21. August 1930 schreibt Karl Barth, Vater von fünf Kindern, diese Zeilen in einem Brief an Charlotte von Kirschbaum. Es ist einer der Augenblicke, in denen Karl Barth, oft ein Meister der Aufheiterung, wie ein Athlet der Verzweiflung wirkt.
Zum Zeitpunkt des Briefes ist Charlotte von Kirschbaum, genannt Lollo, seit einem Jahr offiziell Mitarbeiterin von Karl Barth, seit Februar 1926 besteht ein Liebesverhältnis, seit zehn Monaten wohnt sie im Haus von Karl und Nelly Barth. Karl und Lollo wählen oft große Fluchten, verbringen die Sommer und die Freisemester auf dem Bergli, einem Sommerhaus der Pestalozzis oberhalb des Zürcher Sees und brechen häufig zu gemeinsamen Vortragsreisen auf. Lollo von Kirschbaum, ausgebildete Erzieherin und Krankenschwester, lernt Latein, Griechisch und Hebräisch, im März 1933 wird sie nach Klausuren und einem Kolloquium zum Studium der Evangelischen Theologie zugelassen. Aber zu diesem Zeitpunkt assistiert sie bereits Karl Barth beim Abfassen des opus magnum Kirchliche Dogmatik. Lollo veröffentlichte unter ihrem eigenen Namen wenig, bekannt ist ein schmaler, hundert Seiten starker Band: Die wirkliche Frau. Hinterrücks markiert dieser Band Stärken und auch die Grenzen, die Barths Theologie der Frauenemanzipation setzte.
Das Dreiecksverhältnis, von Karl Barth etwas hüftsteif als Notgemeinschaft tituliert, hält, obwohl sowohl Karl als auch Nelly wiederholt über eine Scheidung nachdenken, 35 Jahre. Lollo von Kirschbaum zieht mit den Barths von Münster nach Bonn und nach Barths Versetzung in den Ruhestand durch die nationalsozialistische Verwaltung nach Basel um. Den Einfluss, den Lollo auf die Entwicklung der Theologie Karl Barths hatte, wird man nicht unterschätzen dürfen. Seine vermeintlichen Schüler reden ihn gerne klein.
Vermittelt über einen befreundeten Pfarrer, lernt Charlotte von Kirschbaum zunächst Barth anhand seines Römerbriefs von 1922 kennen, in diesem ihn berühmt machenden existentiellen Kommentar tritt Barth als wortmächtiger Unheilsprophet auf, der für einen radikalen Subjektwechsel plädiert und von Gott her denken will. 1942 kommt es zu einer entscheidenden Wende, denn nicht länger ist Barth Unheils-, sondern Heilsprophet. Mitten im Krieg entwirft Karl Barth eine Erwählungslehre, die niemanden ausschließt! Ein gleichermaßen provokanter und tröstender Gestus.
Für frühe und treue Barth-Leser war es eine Überraschung, als in der Kirchlichen Dogmatik zunehmend nicht mehr wie in den beiden Römerbriefkommentaren von Gott als Richter die Rede ist, sondern die Menschlichkeit Gottes ins Zentrum rückt. An dieser Kehre und dem in den Folgebänden der Kirchlichen Dogmatik sichtbaren Input von Einsichten der dialogischen Philosophie dürfte Charlotte von Kirschbaum maßgeblich beteiligt sein. Barths Vorschlag, die Erwählungslehre in der Gotteslehre zu verorten, ist der für mich wichtigste Grundgedanke Barths. Hier wird man weiterdenken müssen.
Lollo von Kirschbaums Leben fand keine glückliche Rundung, bereits mit Anfang 60 erkrankte sie an Demenz und musste mit 65 Jahren in ein Pflegeheim eingeliefert werden. Solange Barth lebte, besuchte er jeden Sonntag Lollo und sang ihr Choräle vor. Der Roman versucht den Dauerstress einzufangen, der sich früh auch körperlich bei Lollo, aber auch bei Nelly äußert. Ausgeleuchtet habe ich heller das Leben der beiden Frauen, Karl Barth, der spiritus rector der Barmer Theologische Erklärung, bleibt absichtsvoll etwas im Schatten. Ich bewundere den Großmut von Nelly, die als letzte von den dreien stirbt und zustimmt, dass auch Charlotte von Kirschbaum in der Familiengruft beerdigt wird. Dort ruhen sie zu dritt.
Wer sich entschließt eine (hoch komplizierte) Liebesgeschichte zu erzählen, darf sich auch nicht scheuen, zwei Liebesszenen zu schreiben. Karl Barth war nicht verklemmt, seine kirchenamtlichen Bewunderer tun sich in dieser Hinsicht weiterhin schwer. 50 Jahre nach Barths Tod ist es an der Zeit, den ganzen Barth kennen zu lernen. Barth selbst war ein starker Erzähler, auch deshalb ist es naheliegend, sich ihm und den Frauen in Romanform zu nähern. Der Parcours der Gefühle der drei Figuren hat mich bleibend begeistert.