Mehr Baum- und Wiesenbestattungen, mehr anonyme Grabfelder, mehr Feuer- als Erdbestattungen - die Bestattungskultur befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Was bedeutet das für den klassischen Friedhof?
Dirk Pörschmann: Der Friedhof bleibt weiterhin der zentrale Ort, von dem ich weiß, dass da mein Angehöriger liegt. Ich kann diesen Ort relativ einfach erreichen und für meine Trauerarbeit nutzen. Bestattung und Trauer sind die zentralen Funktionen des Friedhofs. Alles was man in den letzten Jahren da hinzugefügt hat - Baumbestattung und ähnliches - das ist nice to have. Aber der Friedhof selbst muss in unser Bewusstsein als ein Ort der Trauer zurückkehren und diese wirklich ermöglichen.
Kann man nicht überall um einen Verstorbenen trauern?
Pörschmann: Viele Menschen unterschätzen heute, wie wichtig ein Ort für die Trauer ist, den ich gestalten oder an dem ich zumindest einfache, rituelle Handlungen durchführen kann. Das erkennt man daran, dass sich Menschen inzwischen anonym im Urnengrab auf einer Wiese bestatten lassen. Gleichzeitig wollen dann deren Angehörige später ihre Blumen nicht an einer zentralen Ablagestelle ablegen, sondern die Blumen müssen dann genau dorthin, wo die Urne liegt. Das ist auch verständlich - sonst könnte ich die Blumen ja auch gleich zum Kompost tragen. Dieses Bedürfnis nach Verortung sehen sie doch auch an den Kreuzen am Straßenrand, wo ein tödlicher Unfall passiert ist. Es geht um den Ort, weil der Ort einen Moment der Beziehung mit dem Verstorbenen ermöglicht. Ich gehe hin, besuche ihn, mache etwas und entferne mich wieder. Das ist eine wichtige Erfahrung, die uns in der Trauerarbeit ins Leben zurückführt.
Viele Menschen wollen ihren Angehörigen aber die Grabpflege ersparen. Oft wohnen die Angehörigen auch weit weg.
Pörschmann: In Zukunft wird es wichtig sein, Formen der Grabpflege zu finden, bei denen Angehörige etwas machen dürfen, aber nicht machen müssen. Im Moment haben wir hauptsächlich ja nur zwei Varianten: Du musst alles selber machen beziehungsweise in Auftrag geben. Oder, die zweite Variante, bei Gemeinschaftsgräbern oder anonymen Bestattungen, da darf ich gar nichts machen. Aber eigentlich wäre es ja sinnvoll, wenn man in den ersten Jahren der Trauer die Option hat, etwas zu machen, und man danach zufrieden ist, wenn da nur ein Stück Wiese wäre. Es wird darum gehen Handlungen am Grab von der reinen Grabpflege zu unterscheiden und dafür Angebote zu machen.
Sterben kann auch ganz schön teuer sein. Ist der klassische Friedhof ökonomisch ein Auslaufmodell?
Pörschmann: Wir müssen tatsächlich auch über neue Finanzierungsmodelle nachdenken. Ein Besuch in der Staatsoper wird aus allgemeinen Steuermitteln hochsubventioniert, aber wer wird da eigentlich unterstützt, welche soziale Schicht ist das? Der Friedhof dagegen muss sich immer von allein, also durch Gebühren tragen. Was aus verschiedenen Gründen heute oft nicht mehr funktioniert. Wollen wir das wirklich? Der Friedhof stellt eine andere Form der Kultur dar, nämlich der Bestattungs- und Trauerkultur, und diese haben können existenzielle Bedeutung für das Leben haben.
Also steuerfinanzierte Bestattungen?
Pörschmann: Es geht darum, den Friedhof als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen. Friedhöfe sind nicht nur Orte der persönlichen Trauer, sie sind auch Erholungsorte für die Menschen, die in einem stark verdichteten, urbanisierten Raum leben. Und sie sind Rückzugsort für viele Tiere und Pflanzen, die in der normalen Stadtlandschaft immer mehr verschwinden. Man muss auch über diese anderen Funktionen reden, um dem Friedhof wieder Wertschätzung entgegenzubringen. Diese sekundären Funktionen sollten durch öffentliche Gelder ermöglicht werden.
Müssen Friedhöfe technisch aufgerüstet werden, um zukunftsfähig zu sein? Mit QR-Codes an den Grabsteinen zum Beispiel?
Pörschmann: Das ist nicht wesentlich, aber es ist auch keine schlechte Entwicklung. Wenn man dadurch die Möglichkeit hat, zu Lebzeiten zum Beispiel einen Film zu machen, in dem der Mensch von seinem Leben erzählt. Da wäre es ja relativ einfach für einen Friedhof, einen Webserver zu haben, auf dem die digitalen Erinnerungen der Verstorbenen abgelegt werden können. Und man hätte dann mehr als die Lebensdaten der Verstorbenen auf dem Grabstein, sondern auf einmal könnten Besucher über das Smartphone auf audiovisuelle Erinnerungen zugreifen. Wichtiger aber ist: Wir müssen - bildlich gesprochen - die Friedhofsmauern absenken. Und den Friedhof als lebendigen Ort der Trauer wieder in unseren Städten verankern und sie nicht weit entfernt in den Wäldern verorten.
Wie könnte das aussehen?
Pörschmann: Das kann durch vieles gelingen. Ein schönes Beispiel ist der Spielplatz auf dem Hauptfriedhof in Karlsruhe. Der ist zweigeteilt und mit einer Brücke verbunden. Auf der einen Seite kann man alles benutzen, damit spielen - dann geht man über die Brücke rüber und auf der anderen Seite ist die Schaukel festgestellt, der Sandkasten ist mit Beton aufgefüllt, die Rutsche hat eine Gummimatte - man kann also nicht mehr rutschen. Das ist eine ziemlich eindrückliche Erfahrung für Kinder, die mit Tod in ihrer Familie konfrontiert sind. Aber auch für alle anderen. Und es ist auch ein gutes Bild für die Funktion von Friedhöfen: Man kann hingehen, innehalten, trauern und dann wieder auf die andere Seite wechseln, sich also wieder vom Tod entfernen und dem Leben zuwenden. So etwas würde ich mir mehr wünschen. Auch Friedhof-Cafés, Konzerte oder kleine Theateraufführungen sind eine gute Möglichkeit, den Friedhof wieder im Bewusstsein der Lebenden zu verankern. Es geht darum, eine positive Beziehung zu dem Ort aufzubauen, der mein Bestattungsort werden könnte. Da gibt es sicher noch viel zu tun!
Wie sieht es mit Joggern oder Fahrradfahrern oder Inlineskatern auf dem Friedhof aus?
Pörschmann: Da habe ich keine Probleme. Friedhöfe bieten sich geradezu dafür an, dass Kinder hier in einer autofreien Umgebung Fahrradfahren lernen.
Welche Grenzen sehen Sie da?
Pörschmann: Ein Friedhof ist ganz sicher kein Fußball- oder Grillplatz. Auch wenn es hier zukünftig noch viel mehr freie Rasenflächen geben sollte. Aber ob jemand mit dem Fahrrad über die Wege fährt oder mit den Inlineskates oder joggt, da vertrau ich auf das Feingefühl der Einzelnen: Ich muss ja nicht ausgerechnet an einer Bestattungsfeier vorbeijoggen. Da sollte man den Menschen und ihrem Pietätsgefühl viel mehr vertrauen und nicht nur auf Verordnungen oder Verbotsschilder setzen. Auch Kinder haben da in der Regel ein gutes Einfühlungsvermögen.
Kinder unter zehn Jahren dürfen aus Haftungsgründen oft nur in Begleitung von Erwachsenen auf Friedhöfe.
Pörschmann: Das ist doch ein großer Quatsch. Ich weiß gar nicht, was das soll. Kinder sind ja nicht diejenigen, die auf Friedhöfen irgendetwas stehlen oder kaputt machen würden. Wenn, dann sind es doch Erwachsene, die Blumen oder metallhaltige Gegenstände klauen.