Kieler Synagoge nach der Pogromnacht am 9. November 1938
Stadtarchiv Kiel/dpa
Die zerstörten Fenster der Kieler Synagoge nach der Pogromnacht am 9. November 1938.
Predigt am 9. November: Gegen den brüllenden Löwen des Judenhasses
Der 9. November wird auf ewig mit der Pogromnacht von 1938 verbunden sein. Dies ist die Predigt, die Bischof Ralf Meister 80 Jahre später im Gottesdienst zu seiner Einführung als Leitender Bischof der deutschen Lutheraner hielt. Evangelisch.de dokumentiert das Redemanuskript.

"Wer soll denn heute noch predigen? Wer soll denn heute noch Buße predigen? Ist uns nicht allen der Mund gestopft? Können wir heute noch etwas anderes, als nur schweigen? Was hat nun uns und unserem Volk und unserer Kirche all das Predigen und Predigthören genützt, die ganzen Jahre und Jahrhunderte lang, als dass wir nun da angelangt sind, wo wir heute stehen, als dass wir heute haben so hereinkommen müssen, wie wir hereingekommen sind?" Helmut Gollwitzer am Beginn einer Predigt zum Buß- und Bettag, dem 16. November 1938. Wenige Tage zuvor, in der Nacht vom 9. zum 10. November, waren in Deutschland die Synagogen angezündet wor-den; Juden misshandelt, verfolgt und verhaftet worden. Der Holocaust begann.

Nur wenige Predigten des darauffolgenden Sonntags sind überliefert. Es wurde geschwiegen. Die Predigt von Helmut Gollwitzer ist in die Geschichte eingegangen.

9. November! Kein Tag in der Deutschen Geschichte ist erinnerungsträchtiger. Und neben den grausamen Zeichen von Judenfeindschaft und Rassenhass des Nationalsozialismus liegt der Mauerfall 1989, die friedliche Revolution. Heute allerdings klingt auch die 100. Erinnerung an den 9. November 1918 auf. Deutsche Soldaten und Arbeiter, kriegsmüde, revoltierten gegen die kaiserliche Obrigkeit. Der Befehl zum Auslaufen der Flotte gegen England wurde mit einer Matrosenmeuterei in Wilhelmshaven am 30. Oktober beantwortet. Soldaten- und Arbeiterräte entstanden, die "Novemberrevolution" griff auf das gesamte Reich über. Am 7. und 8. November wurden in München und Braunschweig Republiken ausgerufen und am 9. November 1918 verkündet Philipp Scheidemann, Vorstandsmitglied der SPD, aus einem Fenster des Reichstags in Berlin das Ende des Kaiserreichs.

Der 9. November ist ein Tag, der die Widersprüchlichkeiten unserer Geschichte in sich vereint. Aber ist das nur Geschichtsbetrachtung? Oder liegen darin nicht auch die Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen des Menschen selbst? Der Mensch schreibt Geschichte. Für mich ist der 9. November zuerst das unglaubliche Erschrecken über die Pogrome gegen jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen und das grausame Verbrechen der Shoa. Was können Menschen Menschen antun! Gibt es eine Sprache, die die zerstörerische Gewalttätigkeit, das Böse des Menschen, noch beschreiben kann? Oder folgen wir den Worten von Theodor Adorno, 1949: "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch."

Die teuflische Fratze des Menschen entkleidet ihn aller Humanität. Der Mantel der Gnade ist fortgerissen und homo homini lupus est. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kein Mensch. (Das gilt zum mindesten solange, als man sich nicht kennt.)

Weinen wir mit den Weinenden und über unsere Schuld

Ja, wie konnte einer da predigen? Ja, wie können wir heute predigen? Gollwitzer predigte, Adorno revidierte später sein Diktum. Beiden aber ist zu eigen: Wenn wir sprechen, dann sprechen wir in der tiefen Einsicht von Schuld. Wir erkennen, wie barbarisch der Mensch ist. Wir schweigen, auch wenn wir reden, weil wir diesen Ereignissen kein Sinn beigelegen können. Angesichts des unendlichen Leids verstummt jede Deutung. Jedes schnelle interpretierende Wort, müsste die Abgründe menschlichen Tuns verschweigen. Wie fahrlässig sind wir, wenn wir meinen, die Gottesfinsternis mit simplen menschlichen Deutungen erklärbar machen zu können.

Die erste Antwort auf die Geschichte des Menschen in dieser Welt, die erste Antwort des Menschen nach seiner Austreibung aus dem Paradies, als er sich aufmachte die Schöpfung zu zerstören und in gekränktem Narzissmus seinen Bruder zu morden, die erste Antwort des Menschen auf diese Geschichte ist Schweigen.

Keine Worte: "Weinen wir mit den Weinenden und über unsere Schuld."

(Instrumentalmusik)

Wenn wir zurück in die Sprache finden, dann wissen wir um die Grenze. Wir wissen um die Grenze der Worte, wissen um die Grenze unserer Einsichtsfähigkeit, wissen um die Grenze unserer Möglichkeiten. Und wir wissen um die Grenze dessen, was des Glaubens wert ist.

Der Episteltext, der uns für diesen Tag vorgeschlagen ist, findet sich im 1. Petrusbrief: "Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge. Dem widersteht, fest im Glauben, und wisst, dass ebendieselben Leiden über eure Brüder und Schwestern in der Welt kommen." (1. Petrus 5, 8-9). Ein Text auf der Grenze. Denn an der Grenze vom Tag zur Nacht werden diese Zeilen am Beginn der Komplet hörbar. Bevor wir uns selbst vergessen, um im Schlaf von Gott beschirmt zu werden, erinnern wir uns noch einmal, in welcher furchtbaren Welt wir leben. Für Jahrhunderte fand dieser Übergang von der einen Welt der Taten und Untaten in die Welt der Träume und geheimsten Anfechtungen seinen Ort in Luthers Abendsegen. In einem lutherischen frommen Haushalt wurde in der Familie der Tagesausklang in Zeilen gefasst, in denen die Angst vor dem Teufel (auch dem Teufel in mir selbst) und der Trost bei Gott nebeneinander liegen: "Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde."

Die aktuelle Herausforderung ist Antisemitismus

An dieser Grenze findet sich unsere ganze Trostbedürftigkeit. Bevor wir uns im Dunkeln verlieren, rufen wir zu dem, der uns durch alle Finsternisse führen soll. Durch alle Nächte des Lebens bis in den Tod. Jochen Klepper, einer, der unter den Untaten des Menschen 1942 mit seiner Familie den Freitod suchte, schreibt: "In jeder Nacht, die mich umfängt, darf ich in deine Arme fallen, und du, der nichts als Liebe denkt, wachst über mir, wachst über allem. Du birgst mich in der Finsternis, dein Wort ist noch im Tod gewiss."

Doch hier, vor der Grenze geht der Teufel umher. "Wie ein brüllender Löwe, und sucht, wen er verschlinge." Trifft nicht die Bibel mit ihrer Rede vom Teufel als brüllendem Löwen viel von der Wirklichkeit? Der Teufel spielt mit Fake News, verstellt und verwandelt sich. Redet und leugnet, lockt mit Versprechungen, bezahlt mit falschem Lohn. Der Wolf im Schafspelz, die lockende Hexe im Knusperhäuschen und manch moderner Despot. In einem der ersten Texte der Bibel taucht der Satan in Gestalt einer Schlange auf. Verschlagen lauert er auf seine Chance und nutzt sie. Der erste Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen kostete den Menschen das Paradies. Wir sind nie wieder dorthin zurückgekehrt, die Schlange aber, blieb uns auf den Fersen. Sie ist listig und Sinnbild der Heuchelei bis heute - und wir gaben ihr zahllose Namen: Satan, Mephisto, Drachen, Beelzebub, Teufel oder Diabolos.

Wir leben in finsteren Zeiten. Die aktuelle Herausforderung – und am 80igsten Jahrestag der Reichspogromnacht muss daran erinnert werden - ist der Antisemitismus in unserer Gesellschaft. Ungefähr 20% der Bevölkerung haben eine latent judenfeindliche Einstellung; unter kirchlich gebundenen Menschen, was alarmierend ist, sogar etwas höher als in der sonstigen Gesellschaft. Der Antisemitismus hat heute viele Gesichter: Gewalttätige Übergriffe auf Jüdinnen und Juden, Schändung jüdischer Gräber, die Leugnung und Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen gehören ebenso dazu wie Verschwörungstheorien und Hasspropaganda gegen den Staat Israel.

Mit Entsetzen schauen wir auf den schrecklichen Anschlag auf die "Tree of Life"-Synagoge in Pittsburgh. Wir trauern um die Opfer. Diese blinde, fanatische, hasserfüllte antisemitische Tat schmerzt heute noch einmal ganz besonders. Sie ruft uns dazu auf, gegen Hass, Gewalt und Ausgrenzung aufzustehen! Als evangelische Kirchen stehen wir an der Seite unserer jüdischen Geschwister. Es gilt: der christliche Glaube schließt jede Form von Judenfeindschaft aus. "Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und die Menschheit", so formulierte es der Ökumenische Rat der Kirchen 1948. Seitdem beziehen wir immer wieder neu Stellung. Denn: "Jesus von Nazareth wird verraten, wenn Glieder des jüdischen Volkes, in dem er zur Welt kam, als Juden missachtet werden."

Zum Widerstand gehört der Wille zu einer eigenen Haltung

"Wir leben in finsteren Zeiten. Das arglose Wort ist töricht." Der Rechtspopulismus greift um sich. Er reagiert auf eine Gegenwart, die in ihrer Veränderung von vielen Menschen als bedrohlich erlebt wird. Gegenwart ist Krise. Neue gesellschaftliche Bruchlinien bilden sich zwischen denen, die den Wandel als Chance sehen, und denen, die verunsichert sind und Angst haben, zu den Verlierern zu gehören. Die Sprache wird roh und verwahrlost. Mit einfachsten "Rezepten" wird auf komplizierteste Fragen geantwortet. Sprachliche Grenzüberschreitungen sind Methode. Der brüllende Löwe findet ständig neue Opfer, auch unter Christinnen und Christen. Denn wie schreibt Petrus: Eben dieselben Leiden kommen über unsere Schwestern und Brüder. Wir in einem der sichersten, reichsten und freiesten Länder der Erde, in einer stabilen Demokratie müssen den großen Schatz der Hoffnung für diese Welt vorantreiben. Kann man nicht von uns Leidenschaft, Mut und eine starke Glaubenszuversicht verlangen, die anderen zur Hoffnung wird?

Wir werden das Böse nicht ausrotten. Wir werden nicht die Gier und nicht die Angst besiegen. Der 1. Petrusbrief empfiehlt knapp und klar: Seid nüchtern und wach. Bleibt hellwach und aufmerksam. Wo wütet der Teufel? Wie können wir ihm widerstehen?

Zum Widerstand gehört der Wille zu einer eigenen Haltung. Was erkenne ich in der Welt? Was gebietet mir Gott? Für was kann ich stehen? Lasst uns stärker hören, wie junge Menschen unsere Welt lesen. Wie sie Gefährdungen und Anfechtungen bestehen und ihre Zukunft gestalten wollen. Hören von ihrer Angst und ihren Hoffnungen. Wir brauchen eure Sichtweisen. Eure Fragen. Euren Widerstand. Denn euer Enthusiasmus und eure Energie stärken unsere Hoffnung, die Hoffnung der Alten. Lasst uns voneinander lernen. Miteinander glauben.

Die Bereitung zur Komplet endet mit den Zeilen: "Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn" und die Gemeinde antwortet: "Der Himmel und Erde gemacht hat." (EG 786.1)

Amen.

Gehalten am 9. November 2018 von Ralf Meister in der Deutschhauskirche in Würzburg anlässlich seiner Einführung als Leitender Bischof der VELKD.