Am Anfang hörte die Stasi immer mit. Als am 1. November 1988 in Ost-Berlin das kirchliche "Telefon des Vertrauens" ans Netz ging, um Menschen in seelischen Nöten ein offenes Ohr und Seelsorge anzubieten, wussten die 24 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass immer ein dritter heimlicher Zuhörer mit in der Leitung hing. Zur Gründung der Telefonseelsorge hatten sich fünf kirchliche Träger zusammengeschlossen. Neben der katholischen und evangelischen Kirche waren es die evangelischen Freikirchlichen Gemeinden, der Caritasverband und das Diakonische Werk. Mit dieser geballten Ökumene im Rücken überstand das Projekt diese groben staatlichen Verletzungen von Intim- und Privatsphäre im untergehenden SED-Staat.
Nach dem Ende der Stasi waren viele Anrufer ehemalige Stasimitarbeiter
"Wir wussten, dass wir abgehört werden", erinnert sich der Gründer und Leiter der Telefonseelsorge, Uwe Müller, an die Anfänge. Auch sei man sich sicher gewesen, dass die Stasi versuchte, jemanden einzuschleusen. Nach der Auflösung des DDR-Geheimdienstes seien dann viele Anrufer ehemalige Stasi-Mitarbeiter gewesen, die durch Arbeitslosigkeit und den Systemwechsel Hilfe und Beratung brauchten.
30 Jahre später hat sich die "Kirchliche Telefonseelsorge in Berlin und Brandenburg" (KTS BB) zu einem "prächtigen mittelständischen Unternehmen" mit knapp 140 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern allein am Standort Berlin und mehr als 400 Ehrenamtlichen in ganz Berlin und Brandenburg entwickelt, wie es heißt. Sie stehen an sieben Tagen die Woche rund um die Uhr zur Verfügung. Zwischen November 2016 und Oktober 2017 zählten sie 58.000 Anrufe aus Berlin und Brandenburg. Das 30-jährige Bestehen wird am Samstag mit einem Fachtag in Berlin zum Thema "Perspektiven für Seelsorge und Beratung im digitalen Wandel" begangen.
Viele Leitungen für viele Nöte
Dabei ist die KTS BB immer mit der Zeit gegangen. Im Laufe der Jahre entstanden weitere Hotlines, wie das Kinder- und Jugendtelefon, das Berliner Elterntelefon, die russischsprachige Telefonseelsorge Doweria, die E-Mail-Beratung, die Chat-Seelsorge und das muslimische Seelsorge-Telefon. Die "bestens ausgebildeten Mitarbeiter", so Müller, sind in ständiger Weiterbildung und Supervision.
Die neue Herausforderung heißt auch hier Digitalisierung. Immer häufiger wendeten sich Menschen über Facebook, WhatsApp oder andere soziale Medien an die Telefonseelsorge, obwohl dafür noch gar keine Tools zur Verfügung stünden, berichtet Projektkoordinatorin Anastasia Chorfi. Darauf müsse reagiert werden: "Wir müssen mit der Zeit gehen und uns weiterentwickeln." Darum soll es auch bei der Fachtagung gehen.
Ein Blick in die Statistik zeigt dabei, wer die klassische Telefonseelsorge am meisten nutzt. 43 Prozent der Anrufer waren zwischen 40 und 69 Jahre alt, 36 Prozent 70 Jahre und älter oder haben kein Alter angegeben, neun Prozent zwischen 30 und 39 Jahren, vier Prozent zwischen 20 und 29 Jahren. Nur ein Prozent der Anrufer waren zwischen elf und 19 Jahre alt. Die Hälfte der Anrufenden war weiblich (49 Prozent), nur 23 Prozent waren männlich. 28 Prozent waren Kinder oder Menschen, die ihr Geschlecht nicht angeben wollten.
Gesucht werden dringend neue Mitarbeiter, sagt Anastasia Chorfi. Ein einjähriger Ausbildungskurs zum ehrenamtlichen Telefonseelsorger beginnt Ende Januar 2019 und beinhaltet sieben Ausbildungswochenenden, zehn Ausbildungsabende sowie Hospitationen. Ein Berliner Alleinstellungsmerkmal ist es, dass es in der Hauptstadt eine kirchliche und eine nichtkirchliche Telefonseelsorge, die Telefonseelsorge e.V., gibt. Letztere ist die älteste Telefonseelsorge in Deutschland und wurde 1957 in West-Berlin gegründet.