Foto: epd-bild/Charlotte Morgenthal
Häftlinge in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel proben mit ihrem Chorleiter. Die Musik ist für viele Häftlinge ein Weg geworden, um den Anstaltsalltag für ein paar Stunden zu vergessen.
Ein Hauch von Freiheit hinter Mauern
Hinter den Mauern der Justizvollzugsanstalt in Wolfenbüttel probt regelmäßig ein besonderer Chor. Gospel-Klassiker schallen dann laut gegen die Betonwände und vergitterten Fensterscheiben. Die Musik ist eine Flucht aus dem Alltag hinter Gittern.

Der Probenraum ist vergittert. Um ein Klavier in der Nische einer Sporthalle stehen fünf breitschultrige Männer. Die Münder sind kaum geöffnet, da schallt der Gospel-Klassiker "Amazing Grace" gegen die Betonwände und füllt den großen Raum. In der Justizvollzugsanstalt in Wolfenbüttel probt jede Woche ein besonderer Männer-Chor: Jeder Sänger ist Gefängnisinsasse und sitzt wegen einer mehr oder minder schweren Straftat in Haft.

Den Anstaltsalltag für ein paar Stunden vergessen

So wie der 38-jährige Harry, der wegen Körperverletzung mit Todesfolge eine mehr als zehnjährige Haftstrafe verbüßt. "Singen ist für mich ein Hauch von Freiheit", sagt der großgebaute Mann mit zahlreichen Tattoos am Arm. Ein Mithäftling hatte ihn vor einem halben Jahr gefragt, ob er mitmachen möchte. "Vorher habe ich gar nicht gesungen." Jetzt ist die Musik für ihn ein Weg geworden, um den Anstaltsalltag für ein paar Stunden zu vergessen.

Der evangelische Pastor Konstantin Dedekind hat den Chor gemeinsam mit einem Kirchenmusiker vor vier Jahren gegründet. "Musik ist einfach der Schlüssel, um mit Frustration und einem Ohnmachtsgefühl so umzugehen, das es nicht destruktiv ist", sagt der 59-jährige Gefängnisseelsorger. Dabei spielten Unterschiede zwischen den Häftlingen keine Rolle. So singen zeitweise Afrikaner gemeinsam mit Männern mit Hakenkreuz-Tattoo. "Musik schafft es, Brücken zu schlagen, die sonst undenkbar wären."

Afrikaner singen gemeinsam mit Männern mit Hakenkreuz-Tattoo

Einmal wöchentlich geht Dedekind durch die historischen Gänge der teils im 19. Jahrhundert errichteten Haftanstalt, um seine Sänger aus ihren etwa neun Quadratmeter großen Zellen abzuholen. Am Flügel in der Ecke der Sporthalle wartet dann meist schon Patriz Brünsch. Seit fast 20 Jahren leitet der Kirchenmusiker und hauptberufliche Bestatter inzwischen neun unterschiedliche Chöre. Der wöchentliche Besuch in der JVA bleibt dabei etwas Besonderes für den 35-Jährigen: Die Gospelmusik bekomme in den Mauern einer Justizvollzugsanstalt noch einmal eine ganz andere Bedeutung, schwärmt er. "Wenn die straffällig gewordenen Menschen bei 'Oh happy day' anfangen, aus sich herauszubrechen, ist das pure Gänsehaut." 

Vor Publikum singen die Männer, die lässig ihre Wasserflaschen auf dem Klavier platzieren, selten. Zu den Highlights zählt für viele ein gemeinsames Konzert mit dem Sänger Max Giesinger, das vor zwei Jahren als TV-Produktion aus der JVA übertragen wurde. Neben den Häftlingen waren für das Konzert auch Besucher "von draußen" gekommen, erinnert sich Pastor Dedekind. "Und für einen Moment waren alle im Publikum nur Menschen."

Und auch sonst beobachtet Dedekind bei den Sängern positive Effekte. "Sie werden sensibler, achten mehr auf sich und ihre Gefühle. Und das hat auch Auswirkungen auf die Impulskontrolle." Drogenabhängige benötigten deutlich weniger Ersatzstoffe. Dazu zählt auch der 34-jährige Christian. Früher sei er "extrem abgegangen", erzählt er in einer Zigarettenpause. Jetzt gehe ihm bei einem Lied wie 'Amazing Grace' "einfach das Herz auf".



Die ständige Herausforderung bei der Chorarbeit: Immer wieder werden talentierte Sänger und Musiker aus der Haft entlassen. Dazu zählt auch Meik, der den Chor neben seinem Gesang auf seiner Gitarre begleitet. Bei dem Leonard-Cohen-Klassiker "Hallelujah" merkt man dem cool wirkenden Typen mit dem Käppi an, wie nah ihm die Musik geht. Die Chorprobe gebe ihm jedes Mal für den Rest der Woche viel Energie, um die Zeit "gut rumzubringen", sagt er. Bald hat er es geschafft. Und kündigt seinem Chorleiter Brünsch schon mal an, dass er auch außerhalb der Gefängnismauern weitermachen will: "Beim nächsten Auftritt bin ich dabei."