Die eine Hand auf den Tasten, die andere in der Luft. Der Mann vor dem Altar wirkt ein bisschen wie der personifizierte Gummiball. Es ist Chris Lass aus Bremen, wohl einer der bekanntesten Sänger, Komponisten und Coaches für moderne christliche Musik. Immer wieder reckt er seine rechte Hand nach oben. Dann wieder beschreibt er große kreisartige Bewegungen. Oder es geht mal in die Knie. Die schätzungsweise 90 Sängerinnen und Sänger, die die ersten fünf Reihen in der Martin-Luther-Gemeinde im Bremer Stadtteil Findorff bevölkern, grooven sich ein und gehen intensiv mit: Sie singen Gospels.
Die Stimmung ist extrem gut, da geht die Arbeit leichter von der Hand. Während von draußen die Sonne durch die Dachfenster ins Kirchenschiff scheint, bereiten sich die Sängerinnen und Sänger in diesem Gospel-Workshop auf den Sonnabendabend vor. Dann möchten sie ihre Zuhörer auf dem Bremer Marktplatz begeistern. Sie zeigen, dass Christ sein das ist, was Chris Lass im Workshop so umschreibt: "Wir wollen Spaß haben." Natürlich, sagt er später, stecke hinter dieser Musik noch mehr: "Es ist die gute gesungene Nachricht. Es ist Ermutigung, Klage und Hoffnung."
Diese Nachricht haben die Sängerinnen und Sänger von 16 Chören vielstimmig transportiert. Eine Woche vor dem Start des etablierten Musikfestes Bremen ist das 1. Bremer Gospel-Wochenende über die Bühne gegangen – mit dem Workshop unter der Leitung von Chris Lass, mit einem Gospelabend auf dem Bremer Marktplatz und Konzerten in den Innenstadt-Kirchen sowie der Bremer Stadtbibliothek. Die Idee zum Gospel-Wochenende hatte Elombo Bolayela. Er ist nicht nur selbst Gospelsänger, sondern auch noch kulturpolitischer Sprecher der SPD-Bürgerschaftsfraktion.
Zusammen mit Katharina Kissling, stellvertretende Landeskirchenmusikdirektorin der Bremischen Evangelischen Kirche (BEK) und vielen Helfern hat er sich nach eigenen Worten zum Ziel gesetzt, die Community der Gospelsängerinnen und -sänger aus der Blase ihrer jeweiligen Kirchengemeinden in die Mitte der Stadtgesellschaft zu holen. Das sei schon einmal anders gewesen, weiß Bolayela: "In den 1990er-Jahren war die Community sehr stark." Er verweist unter anderem auf den zweimaligen Gewinn der internationalen Chorolympiade durch "Ady & the Zion Community Choir" aus Bremen. An die starke Zeit der Community möchte Bolayela anknüpfen. Er sagt: "Gospel ist eine Sache der Interkulturalität." Menschen unterschiedlicher Herkunft feierten Gott gemeinsam. Und: "So bunt ist die Kirche, so bunt ist der Glaube." Deshalb sollen die Gospel-Wochenenden eine feste Bremer Größe werden.
Dass der Spaß sehr groß sein kann, merken die Sängerinnen und Sänger einmal mehr beim Lass-Workshop. Das Lachen weicht nicht aus ihren Gesichtern. Vor allem dann, wenn sie sich auf sicherem musikalischem Terrain bewegen. Dies besteht zuerst aus einem Medley der drei Songs "Rockin' my Soul in the Bosom of Abraham", "He's Got the whole World in his Hand" und "Amen". Es wird abends das große Finale auf dem Marktplatz markieren.
Die beiden Lass-Kompositionen "The Power of Prayer" und "Halte mich" wirken wie eine Art Kran: Die Kraft beider Stücke scheint dazu geeignet, jeden Menschen aus einem seelischen Tief ans Licht zu heben. Die Sängerinnen und Sänger arbeiten sich Stück für Stück an die beste Technik heran. "Jetzt der Tenor", ruft Chris Lass den wenigen Männern zu. Einer von ihnen nimmt die Noten und Textzeilen so intensiv auf, "dass ich ganz weggetreten war", sagt er am Ende.
Dass Gospels auch etwas mit Bewegung zu tun haben, erleben die Akteure ein ums andere Mal: Sie grooven nicht nur an ihrem Platz, im Gegenteil: Vielmehr wandern sie singend und die Hände haltend durch das ganze Kirchenschiff. Bei "Halte mich" bilden sie am Ende einen großen Kreis um die Sitzbänke herum. Ebenso singend geht es wieder zurück zum Platz. Chris Lass hat sein Ziel, die jede einzelne Stimme einzufangen, erreicht.
Dass es dem Sänger, Komponisten und Coach nicht nur um das profane Lied geht, wird in den leisen Momenten klar. Chris Lass berichtet über die Entstehungsgeschichte seiner Songs. Da ist die Frau, zum Beispiel, die ihren Bruder bei einem Konzert in Halle nach 15 Jahren wieder berührt hat. Chris Lass erzählt auch, dass sein Kind im vergangenen Jahr fast gestorben sei. Heute ist es wieder gesund. Er findet, dass Musik Dinge bewege, "die wir mit dem Kopf nicht erklären können". Für einen Moment ist es still in der Halle.