"Die Musik stirbt zuletzt", der 14. Krimi aus Luzern, gehört gleichfalls in die Kategorie "Gibt’s nicht alle Tage": Dani Levy ("Alles auf Zucker!") hat sich der enormen Herausforderung gestellt, den Film in Echtzeit, am Stück und ohne Unterbrechungen zu drehen. Anders als bei Sebastian Schippers vielfach ausgezeichnetem Kinofilm "Victoria" (2015) klebt die Handkamera (Filip Zumbrunn) jedoch nicht wie ein Schatten an einer bestimmten Person, sondern ändert wie einst in Robert Altmans Maßstäbe setzendem Episodenfilm "Short Cuts" (1993) ständig die Perspektiven, weil sie einzelne Figuren immer nur kurze Zeit begleitet und die Begegnungen mit anderen nutzt, um woanders mitzureisen. Einige Passagen dienen in der Tat nur als Vorwand, um den Schauplatz zu wechseln. Deshalb gibt es eine Art Conferencier (Andri Schenardi), der den Film mit einem Monolog eröffnet, die Handlung skizziert und zwischendurch auch mal einspringt, wenn ein Ortswechsel nötig ist. Trotz der Einheit von Zeit und Raum ist es Levy mit Hilfe eines verblüffenden Effekts sogar gelungen, eine Rückblende integrieren.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Geschichte ist dem Aufwand angemessen, auch wenn es unnötig lange dauert, bis der Regisseur und seine Koautoren (Stefan Brunner, Lorenz Langenegger) damit herausrücken: Im Rahmen eines Benefizkonzerts soll die dunkle Vergangenheit eines angesehenen Luzerner Bürgers offenbart werden. Milliardär Loving (Hans Hollmann) gilt als Wohltäter, weil er während des Zweiten Weltkriegs deutschen Juden geholfen hat, in die Schweiz zu fliehen. Das Geschwisterpaar Miriam und Vincent Goldstein (Teresa Harder, Patrick Elias) weiß jedoch, dass Loving damals keineswegs nur als Menschenfreund gehandelt hat, und will ihn am Ende des Abends bloßstellen. Beide sind Mitglieder des 1945 in Argentinien gegründeten Jewish Chamber Orchestra (verkörpert vom Münchener Orchester gleichen Namens). Unmittelbar vor Konzertbeginn bekommt Miriam einen Drohanruf, kurz drauf bricht Vincent vergiftet zusammen; weitere Opfer folgen. Weil Kommissarin Liz Ritschard (Deliah Mayer) das Konzert privat besucht, kann sie umgehend mit den Ermittlungen beginnen, wenn auch im Abendkleid. Ähnlich unangemessen ist das Erscheinungsbild des Kollegen Flückiger (Stefan Gubser): Er war im Fußballstadion und kommt mit Trikot und Flipflops.
Neben der faszinierenden Gestaltung beeindruckt "Die Musik stirbt zuletzt" vor allem durch Levys logistische Meisterleistung, immerhin fanden die Dreharbeiten im vollbesetztem Luzerner Kultur- und Kongresszentrum mit an die tausend Statisten statt. Zwischendurch gibt es gar eine Verfolgungsjagd quer durch den Hauptbahnhof. In die "Tatort"-Geschichte wird der Film allerdings in erster Linie aus handwerklichen Gründen eingehen, weil zum Beispiel die exaltierte Divenhaftigkeit, mit der Sibylle Canonica ihre Figur (die Exfrau des Milliardärs) versieht, unangenehm aus dem Rahmen fällt. Eine kleine Irritation stellt auch das Alter der Hauptfigur dar. Der 85jährige Hans Hollmann spielt den alten Mann formidabel, aber als Fluchthelfer während des Zweiten Weltkriegs müsste Loving an die hundert Jahre alt sein.
Am gewöhnungsbedürftigsten ist jedoch Conferencier Franky. Lovings zynischer Sohn ist eine Kunstfigur und begrüßt die Zuschauer zu Beginn, indem er direkt in die Kamera spricht und eine "erbärmliche Geschichte" ankündigt: "So was gibt es nur im Fernsehen. Aber ihr werdet euren Spaß haben." Auch im weiteren Verlauf durchbricht er mehrfach die Illusion der Filmhandlung. Einmal erklärt er, warum er keine Krimis mag, ein anderes Mal empfiehlt er Zuschauern, die aufs Klo müssten oder sich ein Bier holen wollten: "Das ist der Moment." Am Ende sorgt er dafür, dass sich die Kamera an das ungeschriebene "Tatort"-Gesetz hält, Menschen nicht beim Sterben zuzuschauen.
Unsichtbarer Star des Films ist ohnehin der Mann hinter der Kamera: Für Filip Zumbrunn dürften die viertägigen Dreharbeiten – der Film wurde je zweimal auf Schweizerdeutsch und Hochdeutsch gedreht – nicht nur physisch eine echte Herausforderung gewesen sein. Dank der vierwöchigen Proben hatte er am Ende zwar den Ablauf im Kopf, aber natürlich wird es trotzdem improvisierte Abweichungen vom ursprünglichen Plan gegeben haben; und das nicht nur wegen der Statisten, die bei den Proben natürlich nicht dabei waren. Reizvoll ist auch die Musikauswahl: Das Orchester spielt vergessene Meisterwerke bekannter oder unbekannter jüdischer Komponisten, die während des Holocausts gestorben sind.