Für Nikolaus Schneider war die 68er-Zeit ein großes politisches Erwachen. "Überall hat die Politik Einzug gehalten, wir wollten die Dimension der sozialen Gerechtigkeit stärker einbringen", erinnert sich der frühere rheinische Präses und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). "In meinen Kreisen verstanden wir uns als Linksprotestanten, links von der Mitte, das war Mainstream."
Der 1947 geborene Sohn eines Duisburger Hochofenarbeiters erlebte das Studium als eine Zeit der Politisierung in der Provinz - vor allem die erste Zeit an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal, wo er im Asta arbeitete. Die Empörung über den Vietnamkrieg und die Armut in Entwicklungsländern wirkten auch hier wie Brandbeschleuniger - zusammen mit der Erkenntnis, wie sehr die deutsche Wirtschaft und viele andere Akteure der Bundesrepublik mit dem Nazi-Regime verbunden waren.
"Die Restauration der Adenauerzeit konnte nicht das letzte Wort beim Aufbau der BRD sein, da musste einfach was Neues kommen", beschreibt Schneider sein Lebensgefühl mit Anfang 20. "Wir hatten einen enormen Willen zu gestalten, zu verändern und Neues auszuprobieren."
Zur Demo nach Berlin reiste der heute 70-jährige Theologe zwar nicht, wohl aber in die Stadthalle nach Wattenscheid. Dort fand Anfang 1968 ein historisches Streitgespräch zwischen dem damaligen Vorsitzenden der nordrhein-westfälischen SPD, Johannes Rau, und Studentenführer Rudi Dutschke statt. Wenige Monate zuvor war der Student Benno Ohnesorg erschossen worden: "Das war die eigentliche Zäsur", sagt Schneider rückblickend.
Ein braves Bürgermädchen war auch die Wuppertaler Ruhestandspfarrerin Sylvia Bukowski als Jugendliche nicht. Durch die 68er-Bewegung sei sie "ein richtiger Hippie" geworden, erinnert sich die Theologin: lange Haare, lila Kleider, barfuß und ohne BH, dazu gerne auch mal eine Zigarre zwischen den Fingern - das war ihr Outfit vor 50 Jahren, ganz im Stil der gesellschaftskritischen linken Studentengeneration.
Feministische Theologie
"1968 hat mich sehr geprägt: Man kann Christ und Sozialist sein", erzählt Bukowski. Sie hat heute kurzes, rötliches Haar und noch immer den Anflug eines leicht spöttischen, freundlichen Blicks wie auf ihrem Berliner Studentenausweis von 1971. In Berlin begegnete sie damals der Theologie von Helmut Gollwitzer und erlebte, wie er nach der Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel im aufgeheizten Auditorium eine flammende Rede für die Solidarität mit Israel hielt - entgegen dem Trend.
"Alles war Anfang der 70er schon sehr dogmatisch, wir haben die kommunistischen Regimes verteidigt und die imperialistischen verurteilt", sagt Bukowski heute selbstkritisch. "Die Unteilbarkeit der Menschenrechte war uns noch nicht bewusst." Den linken Antisemitismus von damals hält sie heute für einen Fehler. Und hat daraus gelernt: Der christlich-jüdische Dialog ist Teil ihres Lebens geworden, nicht zuletzt während ihrer 35 Berufsjahre als Gemeindepfarrerin.
Eine andere bleibende Prägung ist die biblisch-feministische Theologie. Inspiriert durch die Emanzipationsbewegung der 1968er, erreichte diese Strömung zeitverzögert auch die Kirchen mit ihren traditionellen, vermeintlich biblischen Rollenbildern. Beide Prägungen fanden Eingang in mehrere Predigtbände, die Sylvia Bukowski zusammen mit ihrem Mann Peter herausgegeben hat, sowie in Psalm- und Gebetsbücher der Predigtpreisträgerin.
Wie viel 1968 steckt heute noch in der Kirche? Nikolaus Schneider nennt vor allem das Verständnis vom Evangelium als "Kraft, die die Welt verändern will und nicht nur die Seele des Menschen". Aus diesem Grund engagierte er sich etwa in den 80er Jahren zusammen mit Bergleuten und Stahlarbeitern in Duisburg-Rheinhausen für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Im Pfarramt bekam für ihn auch "das Geistliche" mehr Bedeutung: Seelsorge, Gebet und Gottesdienst.
Für Sylvia Bukowski ist vor allem die Offenheit wichtig, die die 68er-Bewegung der Kirche gebracht habe. Themen wie Gleichberechtigung oder Weltbewusstsein seien heute selbstverständlich. "Aber ich bedauere den Dogmatismus und die Blindheit, die wir in manchen Fragen hatten", sagt die Wuppertaler Theologin. "Die 68er waren in vieler Hinsicht nicht in Kontakt mit den normalen Leuten."