Ein Dienstag im Oktober, herrliches Spätherbstwetter, die Chance mit einem einzigen Brückentag ein, je nach Bundesland sehr, verlängertes Wochenende zu organisieren und dann das: am helllichten Vormittag vielerorts in der Republik überfüllte Gotteshäuser. Teilweise Schlangen vor der Kirchentür, ein Gefühl wie "an Weihnachten". 31.10.2017, Reformationstag. Ziel- und Gipfelpunkt eines ganzen Jahrzehnts!
Was war geschehen für diese Quote?
- Zehn Jahre hartnäckig am Thema bleiben? Anfangs durchaus mühsam angestoßen, wurde viel Kraft in innerkirchliche Überzeugungsarbeit gesteckt. Manchmal kam Zeitdruck von denen, die das Thema an sich ziehen wollten, weil sie weit vor uns Potenziale darin entdeckt hatten: touristisch zu erschließende Geschäftspotenziale oder Chancen für die Realisierung großer Infrastrukturprojekte. Oder doch der Abschluss eines Masterplans?
- Ernte mehr oder weniger gut abgestimmter lokaler oder regionaler Arbeit an der Erinnerungskultur von Menschen mit Lust an der Erforschung der eigenen Wurzeln und zentraler Impulse mit großen Mottothemen: Freiheit, Toleranz, Bildung, Individualität, Musik... gewürzt durch oft kritische Impulse aus der akademischen Theologie mit historischen oder systematischen Richtigstellungen und hartnäckig bohrende Fragen aus dem Feuilleton, die zunehmend selbst beantwortet wurden? Nicht zu vergessen das allgemeine Protestanten-Gen der Eigenmotivation durch negierendes Abarbeiten an zentralen Impulsen.
- Ertrag einer jahrelangen Vergewisserungsarbeit am Thema Profil und Identität, je nach Standort: evangelisch, protestantisch, lutherisch, reformatorisch? Reformprozess und großes Jubiläum: strategisch gut ineinander verwoben?
- Mutrendite durch Anpacken heißer oder kritischer Themen? Oder Risikogewinn durch den Kursschwenk in den Raum ökumenischen Handelns?
Mit dem nötigen zeitlichen Abstand wird das Ineinander all dieser Motivbündel und Prozessdesigns gutes Material für manche wissenschaftliche Qualifikationsarbeit abgegeben und die Stochastik, die Statistik und nicht zu vergessen die Chaostheorie bemüht werden, um die Faktoren des Gelingens zu identifizieren.
Aber erklärt das die Quote? Und wäre sie damit wiederholbar? Ich meine: nein. Aus meiner Sicht lässt sich ein weiteres Phänomen beobachten, das insbesondere in den letzten zwei, drei Jahren des Dekadenvorlaufs mehr und mehr sichtbar wurde. Die Entdeckung der Reformation als Story, als Ereigniszusammenhang einer Kette von historischen Einzeldaten, in dem ein Plot erkennbar wurde. Kein historischer mit der Patina von fünf Jahrhunderten, sondern einer jener großen Stoffe der Geschichte, in denen – mit dem nur im Englischen möglichen Wortspiel – rekonstruierte History zur konstruierten Story wird und damit zum Konstellationsgefüge und zum Materialträger für aktuelle Fragestellungen. Shakespeare hat das in der römischen Geschichte und in der eigenen Nationalgeschichte entdeckt, Schiller in seinem Wallenstein, im Don Karlos und im Wilhelm Tell, Goethe im Egmont, Büchner in Dantons Tod, Feuchtwanger, die Mann-Brüder und Franz Werfel in ihren historischen Romanen und jüngst John van Düffel in seiner Römischen Triologie: Historische Einzeldaten werden als Ereigniszusammenhänge (re-)konstruiert, Dichter verdichten sie zu Plots als Tragwerk für drängende aktuelle Fragen: die Gegenwart im Gewand einer Geschichte, scheinbar der Geschichte.
Nach meiner Wahrnehmung ist genau das geschehen in den letzten Jahren. Die Rezeption der Reformation geriet zunehmend in fremde Hände und damit weitgehend außer kirchlicher und akademisch-theologischer Kontrolle. Künstlerinnen, Autoren, Magazinmacherinnen, Fernsehredakteure, Produzentinnen, Drehbuchautoren und Regisseurinnen erkannten das Unsere als Stoff für sich und plötzlich galten ihre Erzähl- und Produktionsregeln: Konzentration auf einige wenige Personenkonstellationen, Konstruktion von anachronistischen Antagonismen, Verdichtung weitläufiger Verbindungen und Entwicklungen in einzelnen fiktiven Szenen... Unendliche Anlässe für empörte Kritik aus akademischem oder kirchenleitendem Mund.
Und doch: Haben wir nicht mit den Themenjahren und ihren Motti genau das Gleiche, nur eben innerkirchlich, gemacht? Uns unsere eigene Reformationsgeschichte unter den großen Stichworten des modernen Protestantismus neu geschrieben?
Wenn meine Beobachtung stimmt, dann könnte das Jubiläum eines rekonstruierten historischen Datums möglicherweise auch zur Arbeit am Mythos Reformation, im Sinn von Hans Blumenberg, zu einer freien aktuellen Reformulierung evangelischer Identität im Gewand einer anachronistischen Erzählung (Herfried Münkler) angeregt haben. Aus den stärksten durch Einschalten rezipierten und aus den gelungensten Werken könnten Einträge ins kulturelle Gedächtnis werden. Außer Kontrolle? Und wenn schon!