Der Reformationstag 2018 könnte zum "kleinen Bruder" des großen Jubiläums 2017 werden, an dem ja an ungezählt vielen Orten ungezählt viele Menschen das Jubiläumsdatum mitgefeiert, mitgedacht und mitgestaltet haben. Der Weg dahin führt allerdings zwischen Skylla und Charybdis hindurch, wobei Skylla die Erwartung ist, es könne 2018 ein genauso großer Festtag werden wie 2017, und Charybdis der Rückfall in die Gestaltung des Feiertages in früheren Jahren wäre.
Gegen alle regressiven und restaurativen Reflexe ist daher an die Entdeckung des Jubiläumsjahres zu erinnern, dass sich der Reformationstag als Tag der Reformation gar nicht allein als kirchlichkonfessioneller Tag eignet, sondern als ökumenisch offener und gesellschaftlich relevanter Tag gestalten lässt. Denn dass nun schon zwei norddeutsche Bundesländer den Reformationstag zu einem offiziellen Feiertag erklärt haben, spiegelt nicht nur den Bedarf an einer gleichmäßigeren Verteilung der Feiertage zwischen Nord- und Süddeutschland, sondern auch ein neues Selbstbewusstsein des reformatorisch geprägten Nordens. Gerade weil sich die Bindungskraft der Institution Kirche abschwächt, aber das Interesse an der Wurzel und der Herkunft der eigenen Werte wächst, ist dieser neue Feiertag ein Segen für alle, die unsere Gesellschaft in (selbst-)kritischer Haltung begrüßen.
Die in der Reformation aufgetauchten Einsichten – die ja in unseren Tagen zum Teil nicht nur recht fremd sind, sondern am 31. Oktober 1517 auch noch gar nicht voll entwickelt waren (sondern eher in der sogenannten Heidelberger Disputation) – gelten allen Institutionen und Religionen, selbstverständlich auch der eigenen evangelischen Kirche: Verwalten wir nur noch oder eröffnen wir neue Begegnungen? Stellen wir die Selbsterhaltung der Institution vor den Einzelnen oder dienen wir ihm? Sind wir offen für Kritik oder haben wir vor allem Antworten auf Fragen, die keiner mehr stellt? Stärken wir Freiheit und Verantwortung des Einzelnen oder haben wir vor allem erhobene Zeigefinger für ihn und sie? Jede Institution, jede Religion, auch jede Partei und jede Organisation hat Anlass, sich diese kritischen Fragen regelmäßig zu stellen – und es ist gut, wenn es in Deutschland einen offiziellen Tag im Jahr gibt, der für diese selbstkritischen Rückfragen Zeit, Raum und Gelegenheit gibt – ein Feiertag zur kritischen Besinnung ist ein Segen für alle.
"Gott und die Seele gehören zusammen"
Die Vorschläge für die Gestaltung des diesjährigen 31. Oktobers in diesem Heft sind deswegen breit angelegt, von theologischer Tiefenbohrung bis zu konkreten Anregungen für eine Praxis. Neue Gestaltungsideen jenseits der vertrauten kirchlichen Wege lassen sich hier ebenso finden wie Impulse für jene oben angesprochenen, selbstkritischen Reflexionen. Die vier klassischen "Allein-Worte", die eine Konzentration des reformatorischen Stoffes auf zentrale Perspektiven anzeigen, sind längst Allgemeingut vieler christlicher Theologien geworden; die Barmherzigkeit Gottes, die einzigartige Bedeutung Jesu Christi und der Heiligen Schrift und die Unverfügbarkeit des Glaubens "gehören" nicht mehr ausschließlich den Protestanten, sondern sind der ökumenisch gesinnte Beitrag eben dieser Kirche eigenen Typs.
Die Reihenfolge der soli wurde in der Geschichte ihrer Auslegung immer wieder anders gesetzt, ein weiterer Hinweis darauf, dass sie innig aufeinander bezogen sind und auch nur so richtig interpretiert werden können. Dies zeigt aber auch, dass sich unsere leistungstaumelige Zeit vielleicht nach diesem Gedanken am innigsten sehnt: sola gratia – allein aus Gnade, umsonst, geschenkt und unverdienbar. Martin Luther schrieb einmal: "Gott und die Seele gehören zusammen", und mit dem einen geht auch das andere verloren. Wenn dieses Heft dazu beitragen kann, den 31. Oktober 2018 nicht ohne Gott und also auch nicht seelenlos zu begehen, hätte es seinen Sinn erfüllt.