Aufgeregt ist sie nicht mehr. Christiane Sander ist die Ruhe in Person, während sie sich auf ihr Ehrenamt vorbereitet. Die Tasche mit den Noten und den Liedtexten hält sie griffbereit. Die 46-Jährige ist Kantorin der evangelischen Gemeinde in der sächsischen Stadt Mittweida. An jedem zweiten Freitag setzt sie sich in ihr Auto und fährt rund 25 Kilometer Richtung Südwesten. Am Stadtrand von Chemnitz, wo sich Einkaufszentren, Kleingärten und Häuser aus der Zeit um 1900 aneinanderreihen und Autos über eine Schnellstraße brettern, steht etwas abgelegen die zentrale Justizvollzugsanstalt (JVA) für Frauen aus Sachsen und Thüringen. Christiane Sander leitet seit 2010 den Chor der Gefangenen: "Manchen Frauen tut das Singen richtig gut. Ihre Seele wird angesprochen." Sie würden angeregt, über Fragen wie "Wo komme ich her?" und "Wo gehe ich hin?" nachzudenken, sagt sie.
Die Zellen befinden sich in Plattenbauten aus der DDR-Zeit, die in den vergangenen Jahren umfangreich saniert und umgebaut wurden. Vor einem niedrigen Haus im hinteren Teil der JVA steht eine Schaukel. Hier ist die Mutter-Kind-Abteilung, wo derzeit fünf Frauen mit kleinen Kindern einsitzen. Sie sind Freigängerinnen, die das Gefängnis für einige Stunden in der Woche verlassen dürfen.
Im so genannten geschlossenen Vollzug stehen 241 Plätze zur Verfügung, die alle belegt sind. Im Jugendarrest gibt es 14 Plätze. Wer in diesem Gefängnis einsitzt, hat betrogen, gestohlen oder sogar gemordet. Viele Frauen stammen aus schwierigen Familienverhältnissen. Manche sieht die Chorleiterin Sander wieder, nachdem sie ihre erste Haftstrafe abgesessen haben, weil das Gericht sie erneut verurteilt hat. "Das tut mir schon weh", sagt sie, und, "es ist nicht die Ausnahme, dass sie wiederkommen."
Die Jahre am Stadtrand von Chemnitz können lang werden. Damit sie sich später nach ihrer Entlassung in den Alltag integrieren, sollen die Gefangenen arbeiten, sich weiterbilden, ihren Schulabschluss nachholen. Frauen, die geistliche Begleitung wünschen, werden von evangelischen und katholischen Seelsorgern betreut. Es gibt Fitness-Angebote, Bastelkurse, Kunstprojekte – und den Chor. Zwei, drei Mal im Jahr treten die Sängerinnen vor anderen Gefangenen auf, etwa zur Weihnachtsfeier. Ansonsten musizieren sie zu ihrem eigenen Vergnügen.
Da die Frauen unterschiedlich lange einsitzen, wechselt die Zusammensetzung des Chores ständig. Das kann zu Spannungen führen, etwa, wenn Gefangene sich wünschen, ein Lied auf Englisch zu singen, und zwei Wochen später andere Frauen da sind, die die Sprache nicht oder nicht gut beherrschen. Sander findet trotzdem einen roten Faden. Sie will den Frauen vermitteln, dass es sinnvoll ist, an einem Projekt dranzubleiben, auch wenn es Kraft kostet: "Das ist mein pädagogischer Ansatz, sag ich jetzt mal hochgestochen."
Im Vorraum des Gefängnisses stehen Spinde, in denen Besucher ihre persönlichen Sachen deponieren müssen, aus Sicherheitsgründen. Christiane Sander schließt ihre Jacke und ihr Mobiltelefon ein. An der Schleuse händigt ihr ein Beamter ein Funkgerät aus. Damit könnte sie in einer brenzligen Situation Hilfe holen. Bislang war das nicht nötig.
Nach vielen Jahren als Chorleiterin wirkt Christian Sander routiniert, was die Abläufe im Gefängnis betrifft. Sie klemmt die Tasche mit den Noten unter den Arm und wechselt ein paar Worte mit Verena Parthum, die sie im Gefängnis begleiten wird. Die Sozialarbeiterin freut sich, dass die Kantorin nach Chemnitz kommt. "Durch den Chor wird den Gefangenen eine Struktur gegeben", sagt Verena Parthum – ein geregelter Tagesablauf mit einer sinnvollen Freizeitgestaltung sei wichtig.
Parthum schließt Türen auf und wieder zu, führt über den Hof hin zu einem Gebäude mit heller Fassade. Der Lift kommt, dann steht die Kantorin in einem Raum mit niedriger Decke, an der Neonlicht flackert. Sie weiß nicht, wer heute zur neunzigminütigen Chorprobe kommt. Bei den meisten Frauen hat sie auch keine Ahnung, weshalb sie in der JVA einsitzen. "Offiziell kriege ich das nicht mitgeteilt", sagt sie. "Wenn sie es mir erzählen, gerade, wenn wir mal wenige sind, dann ist es okay", sagt sie. Ansonsten wolle sie den Gefangenen unvoreingenommen begegnen. Sie seien doch "Menschen wie du und ich".
Bei der Auswahl der Lieder achtet Christiane Sander auf die Umstände, unter denen der Chor probt: "Ein Lied 'Du kannst mit Gott über Mauern springen' – das hat hier eine ganz andere Dimension als draußen." Da viele Frauen bislang kaum Berührung mit einer Religion hatten, sucht sie nicht nur Kirchenlieder aus, sondern auch Volkslieder, Schlager, Filmsongs.
Die ersten Gefangenen betreten den Raum. Von der Jugendlichen bis zur Mittfünfzigerin sind alle Altersgruppe vertreten. Einige Frauen haben schadhafte Zähne, andere sind stark geschminkt. Die meisten tragen Jogginghosen. Wo nackte Haut zu sehen ist, blitzt das eine oder andere Tattoo. Ein lesbisches Paar turtelt miteinander. Es wird viel gelacht.
Schließlich sitzt etwa ein Dutzend Frauen im Halbkreis zusammen und wartet darauf, dass die Chorprobe begint. "Es ist schön, wenn man sich mit den anderen Mädels mal trifft und was gemeinsam machen kann", sagt eine Frau. Hier im Gefängnis sei sie das erste Mal mit Gott in Berührung gekommen, auch durch den Chor. Ihre Nachbarin, eine Frau in den Fünfzigerin, wird ernst: "Auch wenn das hier ein Vorzeigeknast ist: Das ist ein finsterer Ort", sagt sie. "Viele Frauen haben Kinder und sind getrennt von ihnen. Das ist hart." Ob das auch bei ihr der Fall ist, verrät sie nicht. Aber sie betont, dass sie nach dem Singen immer gute Laune habe.
Während Christiane Sander Liederbücher austeilt, erzählt die Frau weiter, dass sie schon in ihrer Jugend "den Weg zu Gott gefunden" habe. Hier im Gefängnis habe sie einen Glaubenskurs besucht und intensiver in der Bibel gelesen. Dann habe sie sich taufen lassen, hier in der JVA. "Alle paar Monate finden hier Taufen statt", sagt sie. "Der Gottesdienst ist dann immer sehr voll."
Jetzt lächelt sie wieder. Christiane Sander beginnt mit einer Übung zum Einsingen. Silben in verschiedenen Tonlagen, rauf und runter. Es giggelt und kichert in den Reihen. Die Frauen beeumeln sich, wie man in Sachsen sagt. Die Chorleiterin bleibt ruhig bei der Sache und lässt die Frauen: "Es ist wichtig, dass es Spaß macht und die Frauen richtig lachen können."