Wasserwerfer-Einsatz der Polizei gegen Demonstranten auf dem Kurfürstendamm im April 1968 bei Studentenprotesten.
Foto: bpk / Jochen Moll
Das Kreuz diente bei Studentenprotesten 1968 meisst eher zur Provokation: Wasserwerfer-Einsatz der Polizei gegen Demonstranten auf dem Kurfürstendamm im April 1968.
Eine komplizierte Beziehung - Die 68er-Bewegung und die christlichen Kirchen
Die Kirche stand nicht im Fokus der revoltierenden Studenten der 1960er-Jahre. Berührungspunkte gab es dennoch. Zum Beispiel, wenn die Protestierenden den Weihnachtsgottesdienst störten oder Demonstranten ein Kreuz vor sich her trugen.

Plakate von Karl Marx, Che Guevara, Mao Tse-tung oder auch Ho Chi Minh: Fotos von den Demonstrationen aus dem Jahr 1968 zeigen, wessen Ideen für die revoltierenden Studenten zählten. Die von Jesus Christus offenbar nicht. Von seinem Konterfei fehlt auf den Bildern jede Spur. "Dabei hätte Jesus in seiner revolutionären Lesart gut zu ihnen gepasst", findet der Historiker Philipp Gassert von der Universität Mannheim. "Aber in den späten 1960er-Jahren hatte keiner die Idee, da mit Jesus zu kommen - Religion wurde als Gegenstück zum Sozialismus empfunden."

Teilnehmer am Ostermarsch Ruhr auf dem Weg vom Kennedyplatz zur Grugahalle, Essen, 30. März 1969. Einige Teilnehmer tragen Schilder mit Porträts von Mao Zedong, Lenin und Karl Marx.

Schon zehn Jahre später hätte das womöglich ganz anders ausgesehen, ist der Professor für Zeitgeschichte überzeugt: Immer mehr Kolonien waren bis dahin unabhängig geworden, die sozialistisch inspirierte Befreiungstheologie, die die Armen zum Ausgangspunkt macht, zog weite Kreise. Auch in den Studentengemeinden der theologischen Fakultäten zwischen Kiel und München wurde die Bibel durch die marxistische Brille gelesen.

Rudi Dutschke und Benno Ohnesorg waren im Protestantismus verwurzelt

Studentenführer Rudi Dutschke (Mi.) und Gaston Salvatore (li.) auf einer Vietnam-Demonstration in Westberlin am 18.02.1968.
In der Dekade zuvor war das noch anders. "Einzelne Personen der Bewegung interessierten sich für das Christentum", sagt Gassert. Zum Beispiel der Studentenführer Rudi Dutschke oder auch der Student Benno Ohnesorg, der auf einer Demonstration erschossen wurde. Beide waren im Protestantismus verwurzelt. "Aber für die meisten Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes und die neue Linke war die christliche Religion kein großes Thema."

Es sei denn, so der Historiker, es sei darum gegangen, einen Eklat zu provozieren. So stürmte Dutschke beispielsweise 1967 den Weihnachtsgottesdienst in der Berliner Gedächtniskirche, um auf das Leiden in Vietnam hinzuweisen. Und bei den Berliner Osterunruhen im Jahr darauf trugen Demonstranten ein Kreuz vor sich her.

"Diese Aktionen zielten wohl vor allem auf einen Skandal ab", vermutet Gassert. "Die 68er nutzten das Happening, um Protest auszudrücken. Damit war ihnen die Aufmerksamkeit des neuen Mediums Fernsehen sicher", sagt der Historiker, dessen Buch "Bewegte Gesellschaft" über die Protestgeschichte nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Juni erschien.

Der Kirche freilich standen die Studenten quasi aus Prinzip kritisch gegenüber, wenngleich sie nicht ihre primäre Zielscheibe war: Sie war schließlich Teil des Establishments. "Von Emanzipation und Selbstverwirklichung wollten die Pfarrer beider Kirchen damals nichts wissen", sagt Gassert. "Sie standen für autoritäres Gebaren."

Evangelische Kirche stärker gegen 68er

Kein Wunder also, dass die revoltierenden Studenten bei den Kirchen kaum auf Sympathie stießen. "Interessanterweise brachte die evangelische Kirche eine stärkere Gegenbewegung gegen die 1968er hervor als die katholische Kirche", sagt der Historiker Thomas Großbölting von der Universität Münster und Autor eines Buchs zur Entwicklung des Glaubens nach 1945. Sie habe auch den "politischen Nachtgebeten", die die evangelische Theologin Dorothee Sölle vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges mit ihren ökumenischen Mitstreitern 1968 monatlich veranstaltete, massiven Widerstand entgegengebracht.

Demonstrationszug mit evangelischen Pfarrern in der Innenstadt von Bonn gegen die Notstandsgesetze am 07.05.1968.

Die katholische Kirche andererseits habe etwas eingelenkt, beurteilt Großbölting deren Vorgehen im Rückblick. 1968, das war das Jahr, in dem Papst Paul VI. der neu auf den Markt gekommenen Anti-Baby-Pille eine Absage erteilte. "Mit der Königsteiner Erklärung stimmten die deutschen Bischöfe den Vorgaben aus dem Vatikan grundsätzlich zu, räumten den Individuen bei der Verhütung aber zugleich Gewissensfreiheit ein." Mit diesem Zugeständnis, meint der Professor für Neuere und Neueste Geschichte, hätten die katholischen Bischöfe versucht, eine noch stärkere innerkirchliche Polarisierung zu vermeiden.

Erst bei den späteren Ostermärschen erscheint Jesus als Symbol für Frieden bei den christlichen Demonstranten, wie beim Ostermarsch 1986 in Hasselbach im Hunsrück gegen die geplante Stationierung von 96 Cruise Missiles mit einem ö?kumenischen Gottesdienst.

Auf Dauer aber konnten sich beide Kirchen nicht des Geists jener Ära erwehren. "1968 steht für die Politisierung der Gesellschaft im Allgemeinen, mit etwas Verzögerung kam das auch in den Kirchen an", sagt Großbölting. Die evangelische Kirche habe etwas früher als die katholische Kirche eingesehen, dass aus Theologie und Glauben heraus keine allgemeingültigen Antworten auf gesellschaftliche Fragen gegeben werden konnten. Über kurz oder lang, meint er, hätten beide Kirchen begonnen, sich mit neuen Themen auseinanderzusetzen - mit der Gleichberechtigung der Geschlechter, dem Selbstverständnis der Gläubigen und mit Belangen der Entwicklungsländer.

Das waren nicht die einzigen Spuren, die die 68er in den Kirchen hinterließen: "In beiden Kirchen nahmen die Zahl der Austritte und das Maß der Distanzierung noch einmal zu", sagt Großbölting. 1968 war nicht Auslöser, wohl aber verstärkender Faktor der Säkularisierung - eine Entwicklung, die die Kirchen bis heute prägt.