Geduldig lässt sich Nero, ein zwölfjähriger Kaltblutwallach, das Halfter anlegen. Zwischendurch schüttelt er den Kopf, vermutlich weil ihm die Mähne vor den Augen stört. Mensch und Tier kennen sich offensichtlich gut, vertrauen einander. Fritz Hübner ist 80 Jahre alt. Er und Nero werden bald auf eine große Reise gehen. Und mit ihnen ein ganzer Kaltblut-Planwagen-Treck unter dem Motto "Titanen on Tour". Startpunkt ist die kleine Stadt Brück in Brandenburg. Ziel wird das circa 2000 Kilometer entfernte Weliki Nowgorod in Russland sein. Es ist ein ambitioniertes Projekt für den Frieden; mit der Idee: "Europa sind wir – Pferde bringen Frieden". Und es ist eine christliche Mission.
Unterwegs sein, pilgern, zu den Menschen gehen, mit ihnen beten und öffentlich das Evangelium verkünden – das ist etwas Urchristliches, erinnert Pfarrer Helmut Kautz. Er wird den Pferdetreck begleiten. Denn das Projekt wurde gemeinsam von der Evangelischen Kirchengemeinde Brück und dem Kaltblut Zucht- und Sportverein Brück ins Leben gerufen. Es ist nicht der erste Treck dieser Art. Bereits vor neun Jahren zogen die "Friedensmissionare" schon einmal mit ihren Pferde-Planwagen durch Europa; damals von Brügge in Belgien nach Brück. Jetzt auf der zweiten Etappe wollen sie ein besonderes "Gepäckstück" mitnehmen; aus Bronze und 70 Kilogramm schwer: eine Friedensglocke.
Sie soll von dem Glockengießer Peter Glasbrenner aus Schwäbisch Hall extra für das Projekt gegossen werden. Am Sonntag, den 24. Juni, wird die Glocke im Gottesdienst um 10 Uhr in der Kirche zu Brück-Rottstock geweiht. Das RBB Kulturradio überträgt den Gottesdienst. Die Inschrift auf der Glocke wird lauten: "Jagt dem Frieden nach" (Hebräer 12,14). Einen Satz, den Helmut Kautz fast wörtlich nimmt. Völkerverständigung, Frieden, Begegnung, Versöhnung – all das empfinde er als seinen christlichen Auftrag. "Christus als Friedefürst", wie er sagt und, "lasst Euch mit Gott versöhnen." Das will der Pfarrer als Botschaft mit auf seine Reise durch Europa nehmen.
Am 18. Juli soll es nach derzeitigem Stand losgehen. Etwa 35 Kilometer pro Tag sind geplant. 70 Orte werden sie anfahren an insgesamt 80 Tagen, denn zwischendurch brauchen Tier und Mensch auch Ruhetage. Die Strecke führt über Polen, Kaliningrad, Litauen, Estland und Lettland nach Weliki Nowgorod in Russland; entlang der historischen Handelsstraße Hellweg. Diesen sollen einst die Flamen von Brügge nach Brück und dann weiter nach Weliki Nowgorod gezogen sein. Der Stadtname Brück leitet sich vermutlich (nicht gesichert) von Brügge in Belgien ab. "Von dort kamen die Flamen vor etwa 850 Jahren hierher und siedelten sich an", erzählt Helmut Kautz. Danach sei auch später die Region Fläming benannt worden.
Vor diesem historischen Hintergrund entstand seinerzeit die Idee, mit einem Kaltblut-Planwagen-Treck den Weg der Flamen nachzuvollziehen. Zu den Initiatoren gehört vor allem Thomas Haseloff. Auch seine Familie stammt von den Flamen ab. Seit Generationen lebt sie in Rottstock, einem Ortsteil von Brück, und betreibt einen landwirtschaftlichen Betrieb. Auf dem Hof leben derzeit etwa 80 Kaltblutpferde. Thomas Haseloff ist außerdem der Vereinsvorsitzende des Kaltblut Zucht- und Sportvereins Brück.
16 Pferde, die wegen ihrer Stärke hier liebevoll Titanen genannt werden, sollen den Treck in diesem Jahr ziehen: sechs Planwagen, einen Brotwagen und den Glockenwagen. Jeder Planwagen sei ein Nachbau eines originalen Wagens aus der Zeit vor 850 Jahren. Etwa 25 Leute fahren jeweils auf dem Treck mit. "Nicht alle sind die ganze Zeit dabei", sagt der Gemeindepfarrer. Alle zehn Tage werde die Crew ausgetauscht. Ein besonderer Gast wird Bäckermeister Karl-Dietmar Plentz aus Schwante in Brandenburg sein, der für die Mitreisenden und auch für die Menschen, denen sie begegnen, so genannte Friedensbrote backen möchte.
Pferde, Glocken, Brot – das sind die drei Symbole, die die Botschaft der Reise tragen. Die Glocke soll an jedem Ort, an dem der Treck Station macht, läuten. Zudem werde sie bei der Aktion "Europaweites Glockenläuten" zum Friedenstag am 21. September erklingen. Und zuletzt will man sie im Kreml von Weliki Nowgorod aufhängen und läuten, einer russisch-orthodoxen Kirche. Demzufolge steht das Projekt auch ganz im Zeichen der Ökumene.
Was er denn von dieser Reise tatsächlich erwarte, werde der Pfarrer häufig gefragt. "Im Grunde nichts", sei dann seine Antwort. Wenn Frieden mit einer Bedingung verknüpft sei, gebe es keinen Frieden. Denn dieser müsse aus der Liebe entstehen und Liebe dürfe nicht "verzweckt" werden. Ein negatives Beispiel: "Wenn in meinem Garten ein Baum steht, der seine Blätter in den Nachbargarten abwirft und mir mein Nachbar vorschlägt, dass wir nur Frieden haben können, wenn der Baum gefällt wird", erklärt Helmut Kautz.
Und sein Gepäck? Was nimmt er mit auf die große Reise? Computer, Bibel, Talar, Feldbett, sein Fahrrad und 70 kleine Glocken, die originalgetreu der Friedensglocke nachgebildet sind. "Jeweils eine möchte ich an jeder Station, an der wir rasten, verschenken", erzählt er. Und ein handgeschnitztes Holzkreuz mit der Inschrift "Friede auf Erden" nimmt er ebenfalls mit. Es wurde aus einem mittelalterlichen Balken geschnitten, der bei der Sanierung der Kirche Brück-Rottstock durch einen neuen Balken ersetzt wurde.