Ein nasser, stürmischer Tag. Und zwei Herren, denen das so gar nichts ausmacht. Ingolf Grabow und Bernd Merkle, beide Mitte 70, können nur spotten über das "bisschen Wasser", das sich in Frankfurt gerade sturzbachartig vom Himmel ergießt. Deswegen das Auto nehmen? Pah! Die beiden sind aktive Naturschützer, vor allem Grabow sieht man das auch an: Sein wettergegerbtes Gesicht steckt unter einer groben Wollmütze, er trägt einen blauen Anorak und Outdoorhose. Merkle in Mantel, Stoffhosen und Regenschirm wirkt dagegen städtisch-gediegen, sein Gesicht aber hat etwas sehr Jungenhaftes.
Grabow und Merkle kennen sich seit Jahrzehnten, arbeiten zusammen ehrenamtlich im Vorstand des NABU (Naturschutzbund) Frankfurt. Heute sind sie in Zeilsheim unterwegs, einem dörflichen Stadtteil am westlichen Rand von Frankfurt. Verputzte Wohnhäuser, gepflasterte Straßen, ordentlich gestutzte Rasenflächen – Menschen leben hier gut, aber auch Tiere und Pflanzen? Danach schauen sie bei allen Rundgängen in der Stadt. Grabow engagiert sich besonders für Vögel. Warum? "Weil der Himmel ohne sie stumm wäre. Eine furchtbare Vorstellung!" Außerdem, fügt er hinzu, seien Vögel ein Teil der Schöpfung Gottes. Deshalb sieht er auch christliche Gemeinden in der Pflicht, ihnen einen Platz zum Brüten und Nisten anzubieten: in ihren Kirchtürmen.
Die Zeilsheimer St. Bartholomäus-Kirche, die die beiden Männer jetzt betreten, hat sogar zwei Türme. Die 200 Jahre alte klassizistische Saalkirche wurde 1957 um einen modernen Anbau erweitert. Seitdem überragt ein viereckiger, hellgelber Betonschlauch mit einem schlichten Kreuz das schieferbesetzte Spitztürmchens mit dem Wetterhahn um einiges. Von außen sieht dieser neue Turm kühl und abweisend aus, innen aber soll es lebendig zugehen – das hofft Grabow. 2010 hat er im Glockenraum des Turmes sechs Nistkästen für Mauersegler angebracht. Von der Straße aus braucht man sehr gute Augen, um die sechs Einfluglöcher in den Holzlamellen zu erkennen. Ob die Vögel sie gefunden haben? Grabow ist selbst gespannt und steigt die 99 steilen Stufen zügig hinauf, während der Wind um den Turm pfeift. Er öffnet die Deckenluke, zieht die Leiter herunter und betritt die wackligen Sprossen, die nach oben in den dämmerigen Dachraum führen. Vier große Glocken hängen in der Mitte, an der Wand ein breiter Holzkasten. Grabow öffnet die Klappe, tastet hinein und ist erleichtert: Es ist Stroh drinnen, die Kästen werden also genutzt, das ist das Wichtigste. Wegen der Menge des herangebrachten Materials tippt er aber auf Haussperlinge, also Spatzen. "Das ist okay. Dadurch werden auch andere aufmerksam auf die Brutplätze. Vielleicht kommen die Mauersegler noch", sagt Grabow und schließt die Klappe behutsam wieder.
In zehn Frankfurter Kirchtürmen hat er in den vergangenen Jahren Nistkästen eingebaut. Einige Gemeindemitarbeiter, das weiß er, waren nach anfänglicher Euphorie gar nicht glücklich damit. Denn statt der Schleiereulen, Turmfalken oder Mauersegler kamen die Tauben. Und die machen Dreck. "Die Gehwege um die Kirche sind vollgekotet – das will keiner", sagte etwa ein Hausmeister einer anderen Gemeinde und verschloss die Einfluglöcher wieder. Grabow versteht das Problem nicht so ganz. "Ein bisschen Dreck – ist das so schlimm?" Und dann wird er grundsätzlich: "Entweder wir wollen Leben im Kirchturm oder wir wollen keines. Wir können doch nicht aussortieren und Hausverbote erteilen. Ich sag´s mal so: Auch Tauben sind Geschöpfe Gottes."
Die Diskussion um die Tauben ist uralt. Und der "Sauberkeitswahn", wie Grabow es nennt, ist einer der Gründe, dass Vögel, die in der Höhe ihre Eier legen, bei uns weniger werden. Natürliche Brutstätten wie Höhlen in Felsmauern und hohe Bäume sind ohnehin selten geworden. Seit Jahrhunderten nisten diese Vögel deshalb in Kirchtürmen. In den 1950er Jahren aber begannen viele Gemeinden, Netze zu spannen, um die Tauben fernzuhalten. Sie vergitterten oder stopften Löcher im Mauerwerk, verputzten Vorsprünge, dichteten die Dächer ab. Dies geschah auch zur Wärmedämmung – und nicht nur in Kirchtürmen, sondern in allen Gebäuden. Neubauten mit glatten Betonwänden böten nun kaum mehr Anflugmöglichkeiten. Zudem sei es für die Vögel schwer, in den Städten mit den versiegelten Wegen, Plätzen und Grundstücksflächen, Material für den Nestbau zu finden, erklären die Naturschützer. "Auf dem Land ist es wegen der Monokulturen auch nicht besser", ergänzt Grabow. Der großflächige Einsatz von Pestiziden schaffe eine eintönige, lebensfeindliche Landschaft, töte Insekten und Kleinsttiere und entziehe den Vögeln ihre Nahrungsgrundlage. Erst würden die Insekten sterben, dann die Vögel - dann herrsche Einöde. "So möchte ich nicht leben", sagt Grabow.
"Ich auch nicht", meint Merkle, der lange zugehört hat – und häufig zustimmend genickt. Trotzdem: Die Bedenken der Gemeinden wegen des Taubendrecks müsse man ernst nehmen. Es gebe durchaus Möglichkeiten, die Tauben am Brüten zu hindern, etwa indem man die Eier mit künstlichen vertausche. Auch Dohlen vertreiben die ungeliebten "Ratten der Lüfte". Der NABU berate die Gemeinden auch in solchen Fragen.
Merkle mag Vögel auch, sein Herz aber gehört den Fledermäusen. Auch diese sind traditionelle Kirchturmbewohner, auch sie sind gefährdet durch moderne Landwirtschaft und Stadtwüsten: Vier der 24 heimischen Fledermausarten sind laut NABU vom Aussterben bedroht, auch durch Windkraftanlagen übrigens, und weil Menschen unbewusst ihre Quartiere zerstörten. Fledermäuse lieben rauhes unbehandeltes Holz, um sich daran festzukrallen. Förster aber räumen Altholz aus dem Wald. Und Hausbesitzer renovieren ihre Dachböden, behandeln dabei die Wände mit Holzschutzmitteln, schäumen Hohlräume aus und versiegeln die Fugen.
Im Dachstuhl der St. Bartholomäus-Kirche hat der NABU eine 50 Quadratmeter große leere Kammer eingerichtet, in der all dies unterlassen wurde und die von den Fledermäusen durch einen Einflugschlitz von außen erreicht werden kann.
Der Weg von Grabows Nistkästen bis dorthin ist mühsam: Man muss den Glockenturm hinuntersteigen, auf hölzernen Stegen durch den dämmrigen Dachstuhl über dem Kirchenschiff balancieren, dabei mehrmals den Kopf einziehen, dann steht man vor einer Holztür mit einem Fenster, das mit einem Vorhang verhangen ist. Fledermäuse sind empfindlich für Störungen. Die Tür soll möglichst selten geöffnet werden, Besuchergruppen beobachten die Tiere nur durch das Fenster. Willkommen sind sie aber. Auf dem Gang hat Merkle mehrere Informationstafeln aufgestellt – und führt vor allem Schulklassen hier hoch. "Je mehr Kinder sehen, wer hier noch wohnt und wohnen kann, desto besser."
Die Vögel im Neubau, die Fledermäuse im Altbau – Die Zeilsheimer Kirche St. Bartholomäus hat das Leben in ihren Dachstuhl einziehen lassen. Wenn die Orgel am Sonntagmorgen im Gottesdienst ertönt, stört das oben im Dachstuhl übrigens niemanden. Und auch nicht, wenn die Glocken läuten. "Es ist erstaunlich: Die Vögel in den Nistkästen nebenan blenden dieses Geräusch einfach aus", sagt Grabow. Zurück auf der Straße hat der Regen aufgehört und ein Blick zum Himmel ist wieder möglich. Er erscheint plötzlich so lebendig.