Doch der Film handelt auch von Liebe, Loyalität und Wagemut; und von der Frage, wie es weitergehen soll. Die stellt sich vor allem für die schwangere Kommissarin Sieland. Der sechste Fall ist auch ihr letzter; Alwara Höfels verlässt das Team, weil sie keinen "künstlerischen Konsens" mehr sah, wie es heißt. Mit Cornelia Gröschel hat der MDR allerdings eine zwar weniger prominente, aber nicht minder reizvolle Nachfolgerin gefunden. Als hätten alle Beteiligten Höfels den Abgang richtig schwer machen wollen, ist der Abschiedsfall ähnlich fesselnd wie zuletzt "Déjà-vu" (ausgestrahlt im Januar). Dort jagte das Duo einen Kindermörder, diesmal einen Frauenmörder, und ähnlich wie vor knapp einem Jahr in "Level X" spielt das Internet, das Kommissariatsleiter Schnabel (Martin Brambach) damals am liebsten abgeschaltet hätte, eine maßgebliche Rolle.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Zunächst jedoch beginnt der Film ganz klassisch mit einem Mord: Eine junge Frau verlässt in Panik einen Club, erreicht ihr Auto, wähnt sich in Sicherheit und wird dann doch brutal mit einem Kabelbinder stranguliert; ihre Freundin muss telefonisch alles mit anhören. Die Spur führt ins Netz: Doro hatte eine Vorliebe für erfahrene Männer und war unter dem Namen "Birdy" bei einem Datingportal registriert. Dort war sie zuletzt offenbar unterwegs, um ihre Verehrer Stil abzuzocken. Freundin Laura (Kyra Sophia Kahre) versichert allerdings, Doro habe ihr Profil längst gelöscht; also hat sich jemand anders ihre Wirkung auf reife Männer zunutze gemacht. Die Verehrer haben davon natürlich keine Ahnung und sich unter der Bezeichnung "Vogeljäger" zusammengeschlossen, um die Betrügerin zur Strecke zu bringen. Gleich zehn von ihnen waren auf einer Ü-30-Party, die auch Doro unmittelbar vor ihrem Tod besucht hat, und zwei haben kein Alibi. Weil es ansonsten keinerlei Indizien gibt, entwickeln Sieland und ihre Kollegin Gorniak (Karin Hanczewski) einen riskanten Plan: Sie melden sich ebenfalls bei dem Portal an. Die Männer schlucken den Köder, aber als unversehens Gefühle ins Spiel kommen, wird die Liebelei für eine der beiden Polizistinnen zum Flirt mit dem Tod.
Autor Erol Yesilkaya hat in den letzten Jahren einige bemerkenswerte Arbeiten für den "Tatort" geliefert, allen voran zuletzt die Film-im-Film-Geschichte "Meta" aus Berlin. Meist sind seine Drehbücher, darunter mit "Die Wahrheit" (2016) ein verstörend guter Krimi aus München sowie anschließend der Serienmörder-Thriller "Es lebe der Tod" mit Ulrich Tukur, von Sebastian Marka verfilmt worden. Das hat diesmal Theresa von Eltz übernommen, die vor einigen Jahren mit ihrem Regiedebüt "4 Könige", einem herausragend gut gespielten Anti-Weihnachtsfilm über vier Jugendliche in der Psychiatrie, nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht hat. Mit "Wer jetzt allein ist" beweist die Regisseurin, dass sie auch Krimi kann. Der Reiz ihres ersten "Tatorts" liegt auch in einem Wechsel des Vorzeichens mitten in der Geschichte: Als sich die Kommissarinnen auf ihre gefährliche "Undercover"-Aktion einlassen, scheint dem Film vorübergehend die Spannung abhanden zu kommen, weil er unvermittelt romantische Züge annimmt; tatsächlich ist das ein raffinierter Trick, um die emotionale Fallhöhe zu vergrößern. Dass Buch und Regie eine der beiden Heldinnen dabei in zwei erotische Szenen verwickeln und schließlich auch noch Sex und Gewalt kombinieren, ist für einen Sonntagskrimi nicht nur ungewohnt, sondern auch gewagt, erhöht aber natürlich die Verletzlichkeit und sorgt somit für ein packendes Thriller-Finale. Für Entspannung sorgen einige witzige Auftritte Brambachs, der als Chef des Duos diesmal ungewohnt sympathisch sein darf und unter anderem Gorniaks Sohn mit Handschellen an den Tisch fesselt, damit der Junge für die Mathe-Klausur übt.
Neben der spannenden Geschichte und der ausnahmslos vorzüglichen Arbeit mit den Schauspielern (allen voran Aleksandar Jovanovic als verhärmtes Muttersöhnchen) besticht "Wer jetzt allein ist" auch durch die ausgezeichnete Bildgestaltung (Juan Sarmiento G.) sowie durch eine Musik (Christian Meyer), die schon allein wegen des durchgehenden spieluhrähnlichen Leitmotivs besonders klingt. Das einzige Element, das das ausgezeichnete Gesamtbild um eine Winzigkeit trübt, ist der unecht anmutende Epilog, der wie nachträglich angeklebt wirkt, damit Sieland Abschied nehmen kann.